Donnerstag, 220915

Auf dem Arbeitsweg läuft das Radio.

Papa, passt du auch auf mein Spielzeug auf? Ja sicher, meine Liebe. Papa, hast du auch ein Maschinengewehr? Ja, ich habe ein Maschinengewehr. Papa, ich möchte auch ein Maschinengewehr. Warum in aller Welt möchtest du ein Maschinengewehr? Ich möchte Russen töten, Papa.

Telefonat eines ukrainischen Soldaten mit seiner vierjährigen Tochter, die vor der Front in Sicherheit gebracht wurde (DLF)

Zwei Generationen. So lange dauert es, bis der Horror wieder aus den Seelen verschwindet. Und hier – schreien sie wieder Hurra. Waffen, Waffen, Waffen liefern.

Ich kann nicht soviel fressen, wie ich kotzen möchte

Max Liebermann

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Zitiert und geschrieben wurde von einem Kriegenkel

Sonntag, 210131

Der Tag beginnt mit Kopfweh und Niedergeschlagenheit, eineinhalb Liter mit Ingwer versetzter grüner Sencha verdünnen das Blut und die Über-Kopf-Übungen lassen das Kopfweh in den Hintergrund treten. Das Radio läuft leise, in allen Räumen derselbe Sender. Zeit für die Kirche, ich höre, dass Paulus alles schuld sein soll, im Sinne der Abkehr von der reinen Lehre Jesu. Mir gleich, denke ich, so kompliziert mein Seelenleben und so verworren meine Lebensgeschichte auch sein mag, so simpel und einfach ist mein Kinderglaube.

Viel Spektakuläres gibt es nicht zu berichten. Das Leben fordert mich derzeit eher im Stillen, aber dennoch ausgiebig. Die Eltern – sie brauchen was anzuziehen. Einkaufen ist für sie schon in „normalen“ Zeiten aufgrund ihrer Gebrechen schwierig bis unmöglich. Also bewaffne ich mit Laptop und Phon als Hotspot zur Shopping-Tour. Weil es nicht anders geht. Es hat etwas befremdliches für mich, wenn die Grenzen verwischen, wenn ich in intime Lebensbereiche eindringe, eindringen muss.

Stille Lektionen auch anderenorts. Im Austausch mit meinesgleichen werde ich mir meiner selbst bewusst, im Sinne des vierten und fünften Schrittes der anonymen Alkoholiker. Rücke auch mir näher, der alte Zauber wirkt immer noch und immer wieder, im kleinen Kreis ebenso wie in einer größeren Runde.

Nicht nur hier arbeitet es eher im Verborgenen. Die Familie hat wieder einmal Nachwuchs, die Liebste ist vierfache sechzehnfache (wir haben gerade der Wahrheitsfindung wegen gemeinsam auch den äußeren Kreis mit einbezogen und sorgfältig durchgezählt) Großtante geworden. Ich nehme auf meine Weise Anteil, freue mich für alle an diesem existenziellen Vorgang Beteiligten über die gelungene Schlüpfung. Was wirklich zählt, abseits mancher unerfüllbaren Sehnsüchte – hier schimmert es durch. Geburten, Todesfälle und die Intensität der Zeit dazwischen. Einfach Leben.

In dem Sinne…

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Sonntag, 201018

Ein paar werkfreie Tage gehen zu Ende, ich bin dankbar für unsere Kinder, die Corona zum Trotz hier her finden. So wie ich es im übrigen mit meinen Eltern halte. Es ist nicht an uns, uns vollständig zu isolieren, das macht auf Umwegen ebenso krank. Zweifel gehören dazu. Was ist, wenn. Nicht für mich, für uns. Für die Alten. Es ist, wie es ist und ich lasse mich führen.

Sonst so? Es scheint heute doch noch heller zu werden. Es braucht Licht, Luft und vielleicht auch Sonne.

Gestern gesehen

THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING MISSOURI

Eine Frau in den amerikanischen Südstaaten verliert ihre Tochter, die Opfer eines grausamen Verbrechens wird. Weil alle Ermittlungen im Sande verlaufen sind, mietet sie drei seit Jahren verfallende, riesige Werbetafeln an einer Ausfallstraße an, um mit größtmöglicher Aufmerksamkeit wieder Bewegung in den Fall zu bringen.

Rau, derbe, schräg, sehr berührend und teils auch gewalttätig ist dieser Film nichts für zarte Naturen. Für mich sehr bewegend, zu sehen, wie sich die Protagonisten nach und nach entwickeln, zu sehen, welchen Aufruhr die Aktion der verzweifelten Mutter in diesem verschlafenen Südstaatenkaff bringt. Der Film hat nur scheinbar kein greifbares Ende, es bleibt spannend bis zum Schluss.

Sehenswert !

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Perlen auf der Schnur

So reihen sie sich auf, die kleineren und größeren Episoden in meinem Leben, die etwas mit dem Umstand zu tun hatten, dass ein erst kleiner, dann größerer, und später dann erwachsener Junge zu mir gehört.

Es gab Affären, die scheiterten, weil jemand damit nicht klar kam.

Es gab eine längere Beziehung, die (mit)aus dem gleichen Grund scheiterte.

Es gab eine kürzere Beziehung, in der ich verraten wurde, an einem schussgeilen Kerl, dem das Herz geöffnet wurde über mein ach so schwieriges Kind.

Es gab große Eltern, die keinen Wert auf Kontakt zu ihrem Enkel legten. Oder besser, die damit verbundene Mühe und Unannehmlichkeiten scheuten.

Die letzte Perle ist die bislang Größte. Da gibt es auf ihre Weise sehr konsequente Großeltern, die ihn unter fadenscheinigen Vorwand weder einladen noch sonstwie kontaktieren wollen, da sie für ihn wohl Fremde sind. Das ist dann seine Schuld, nicht ihre, natürlich.

Auch ich bin auf meine Weise konsequent. Nicht Auge um Auge, nein. Ein jeder muss vorsichtig sein, der mein Kind ablehnt. Auch die eigenen Eltern.

Wie an anderer Stelle schon gesagt, ein Auge reicht, dem vierten Gebot Genüge zu tun.