Donnerstag, 220714
Vater liegt auf der Demenzstation einer psychiatrischen Klinik in der Nachbarstadt. Man stellt mich zur Station durch, langsam entwickle ich Routine im Erstkontakt mit neuen Einrichtungen. Durchwahlen notieren, die restriktiven Besuchsregeln erfragen. Zwei Mal die Woche je eine halbe Stunde und nur mit Termin. Sie geben vor, was noch frei ist. Geht man mit dem Patienten raus, gehen auch mehrere Personen, auf Station nur eine. Die halbe Stunde ist teilbar, wenn der andere draußen wartet. Tagesaktueller Schnelltest selbstverständlich. Ich mache zwei Termine, einen für mich, morgen, und einen für Mutter, am Samstag.
Der Sozialdienst der Einrichtung, die Frau am Telefon klingt mitfühlend und bemüht. Ich schildere die Lage, wie sie ist, dass für Vater ein Heimplatz gefunden werden muss, erkläre die Umstände und die Legende der ganzen Geschichte in kurzen knappen Worten. Erfrage die mögliche Aufenthaltsdauer, das sind wohl in der Regel 2-3 Wochen zum medikamentösen einstellen, beobachten und diagnostizieren. Alles voll, sagt sie, Sommerferien seien immer sehr schlimm. Man müsse nehmen, was frei wäre, zur Not auch weiter weg, vorübergehend. Im Herbst wäre es erfahrungsgemäß etwas entspannter. Ob Vater Weglauftendenzen hätte. Ich verneine unter Vorbehalt, da ich nicht weiß, ob seine wahre Natur nicht doch nochmal aufblitzt. Häuser für Patienten mit Hang zum abhauen wären noch rarer, die meisten Einrichtungen nehmen solche nicht auf. Sie verspricht, zu schauen, wäre ja auch noch Zeit und notiert schonmal, dass eine Entlassung keine Eile hätte.
Am späten Nachmittag gönnen wir uns einen langen Spaziergang und ein auswärtiges Abendessen. Beim laufen durch die Stadt denke ich an unseren neuen Gemeindepfarrer und ob es wohl Sinn mache, den zu kontaktieren. Möglicherweise hat er gute Verbindungen zur Diakonie und möglicherweise hat er auch Interesse an einer Spende für neue Kirchenfenster. Oder so. Skrupel habe ich keine, wenn es hilft. Mal sehen, es hat noch ein wenig Zeit. Die Regeln sind ebenso einfach wie brutal, von Kurzzeitpflege mal abgesehen: Wenn ein Mensch stirbt, wird ein Platz frei.
Beim Gedanken an den morgigen Tag wird mir übel.
Freitag, 220714
Der Demenzstation der Klinik hat keine guten Ruf, ich bin auf einiges gefasst und kann es dennoch nicht fassen, als ich nach langer Fahrt, Test, warten, Formular ausfüllen endlich die Station betrete. Dreck. Pfützen auf dem Boden und Tischen. Wo das Auge hinfällt – Dreck und Elend. Es hat eine Art Aufenthaltsraum, der auch als Speisesaal dient. Flure gehen zu den Zimmern ab, mitteldrin ein vollverglastes Büro, stets verschlossen. Mir fallen Bahnhöfe ein, die Mission in groß.
Vater sitzt in einem Rollstuhl und starrt vor Dreck. Hose, Shirt, Gesicht, alles verschmiert. Mag sein, dass es so extrem ist, weil gerade Essenszeit ist. Einem der Pfleger (die Bezeichnung ist angesichts der Umstände ein Witz) gebe ich frische Wäsche und fordere ihn auf, Vater ein frisches Shirt anzuziehen, sofort. Er bringt die Wäsche weg, fährt Vater kurz fort und zieht ihn um, zumindest das Shirt. Das Zimmer darf ich nicht betreten, ich ahne die Gründe. Vater ist wieder am Tisch, ich setze mich zu ihm.
Das Entsetzliche ist, Vater ist bei sich, wenn auch verwirrt. Er erkennt mich sofort. Nimm mich mit, bittet er mich, hab doch sonst keinen mehr. Kann ich jetzt zu dir? Dann wieder sieht er meine Hand, macht in seinem Kopf aus einem Ring zwei, fragt, warum ich ihm nicht gesagt habe, dass ich sein Auto verkauft habe. Er wirft einiges durcheinander, nimmt aber seine Umgebung wahr. Einen Tisch weiter sitzt eine kleine, alte Frau, eigentlich sitzt sie nicht, sie hockt zusammengekauert auf einem Stuhl, mit einem schmerzverzerrten, entmenschlichten Gesicht. Die arme Frau, sagt Vater, ich wünsche ihm wieder den Zustand des Krankenhauses zurück und schäme mich zugleich dafür. Er braucht Hilfe bei der Stulle, fragt nach einem Joghurt, ich füttere ihn. Kurz gehen wir raus, aber es ist recht frisch für Vater. Wo soll ich hin, fragt er wieder. Ich kann ihm nicht erklären, dass er weder zu mir noch zu seiner Frau kann, mit seinem Rollstuhl. Wir haben einfach nicht die Möglichkeiten. Was bleibt, ist ihm zu versprechen, alles mögliche zu tun, dass er ein neues Zuhause bekommt, bevor mich die „Pfleger“ hinauswerfen. Sie nehmen die 30 Minuten sehr genau.
Draußen mache ich mich heulend und wie in Trance auf den Heimweg. Fassung muss ich nicht mehr bewahren und so läuft es. Ich habe mich in meinem Leben noch niemals derart hilf- und machtlos gefühlt, ein Zustand, der daheim seine Fortsetzung findet. Das alles muss ich jetzt meiner Mutter beibringen, die ihren Mann morgen so oder ähnlich sehen wird. Das Telefonat ist schlimm, derweil ich die meine Fassung brauche, die sich davonmachen möchte. Das setzt sich am Abend fort, als das große Kind uns besucht.
Ich fange an, selbst Kontakte verschiedener Einrichtung zu sammeln und überlege, als Sofortmaßnahme die „Pfleger“ zu bestechen, damit sie meinen Vater besser behandeln oder ihnen anzubieten, die Zustände öffentlich zu machen. Das Problem wird die Schichtarbeit mit wechselnden Gesichtern sein. Wird einer gestopft, geht das den anderen nichts an.
Am Montag muss ich wieder arbeiten, werde aber mindestens noch einmal mit der Sozialarbeiterin sprechen, ihr die Zustände schildern und Dringlichkeit veranlassen, soweit möglich. Im Netz gibt es Websites, die bei der Suche helfen können, da und dort sind Plätze frei, angeblich, wie also kann es sein, dass mir die Sozialarbeiterin sagt, sie hätte vor zwei Tagen noch mit der Einrichtung gesprochen, alles belegt. Ich muss mich selbst kümmern, aber mir wird nächste Woche vorne und hinten die Zeit fehlen. Verdammte Arbeit, aber ohne geht es noch nicht.
Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, ist es Samstag Morgen und mir graut vor dem Nachmittag …
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Ich bitte um Verständnis, wenn ich derzeit nicht wirklich zum lesen oder zum Kommentare beantworten komme.
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