240328 – Traumzeit

Bevor das Tagesgeschäft wieder alles ins ewige Dunkel schiebt.

Mein Selbst hängt in der Steilwand, unter mir viele Hundert Meter Abgrund. Es wird gekämpft, jeder gegen jeden, Männer und Frauen unterschiedslos. Viele fallen tief und irgendwann bin ich mit der Einen allein. Eigentlich ist sie mir wohlgesonnen und in ihrem Gesicht ist echte Anteilnahme und Trauer zu lesen, als sie mir den Rest gibt und mich in den Abgrund stürzen lässt. Aber das ist die Regel, es darf nur Einer übrig bleiben. Fallen, immer schneller. Irgendwo dort unten ist ein See, klein wie ein Spielzeugspiegel. Wie lange so ein Sturz dauert, ich schließe ab und verabschiede mich von mir.

Wider Erwarten verlangsamt sich sich der Sturz und ich tauche in den See ein, den zu treffen ich nicht gedacht hätte. Erstauntes Weiterleben.

Verstörend? Dann geht weiter, mal ist das so. Hin und wieder kämpf Mensch an allen Fronten zugleich und dann geht des Nachts die Seele wandern …

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Donnerstag, 221020

Letzte Nacht war eine dieser Nächte, in denen sich Wirklichkeit und Traum die Hände reichen und den Träumer dazu nötigen, für einen kleinen Moment richtig wach zu werden, um wieder unterscheiden zu können. Was genau eigentlich? Pathologisch ist es jedenfalls nicht, obgleich es sich manchmal für Minuten so anfühlt. Träume sind Teil der Wirklichkeit, auch wenn hier Geschlechter, Rollen, Freundschaften, Partnerschaften und Verwandtschaftsgrade frei fliegend wechseln können. Interessant auch, was andere glauben, unsere Deutung des Begriff Traum passt hier nicht wirklich. Was ich gut annehmen kann, ist die Vorstellung, das absolut alles beseelt ist, Belebtes und Unbelebtes, und dass alles mit allem in irgendeiner Weise verbunden ist.

Die wilden Nächte sind kein Wunder, derzeit. Heute nach der Arbeit besuche ich Vater, dessen Geist sich zunehmend zurück zieht, wie schon sein Körper seit längerer Zeit. Der Tod durch Altersschwäche ist ein zäher Geselle, der sich quälend lange Zeit lässt – plötzlich und unerwartet dagegen ein Geschenk, wenn auch oft ohne die Möglichkeit des Abschieds, den ich gerade so schmerzhaft bewusst wahrnehme. Wenn die Quälerei meines Vaters einen Sinn hat, dann den, mir auch noch die letzte Leiche aus dem Keller zu holen.

Und die so genannte Realität, also der „wache“ Teil der Wirklichkeit?? Sie fordert und lärmt. Alles wie immer, meine Nächte interessieren das Tagewerk nicht. So eine gewisse Erdhaftigkeit ist über Tag schon „praktisch“, wenn des Nachts auf Reisen gegangen wird.

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Montag, 220627

Magischer Realismus, las ich gerade bei der Familienbande. Habe ich noch nie gehört, was mir aber oft so geht, mit meiner ausbaufähigen Halbbildung. Magischer Realismus also, eine Stilrichtung der Kunst, in der Malerei ebenso anzutreffen wie in der Literatur. Kennzeichnend ist die Vermengung von Realität und Phantasie, bildhaft oder verbal. Das spricht mich sehr an, weil es sich trefflich ins Emotionale, in die Wahrnehmung unserer selbst und der Welt übertragen lässt. Erweitert den Fokus und schürt die Hoffnung, dass daraus etwas Neues entstehen möge, im Idealfall besser als das alte. Realität + Phantasie schaffen in der Summe mindestens Visionen, zünden manchmal Ahnungen, wie etwas werden könnte. So mag ich den Konjunktiv 🙂

Sonst so? Schuhe einlaufen, auch bei fragwürdiger Wetterlage.

Die alten düsteren Steine laden zum träumen ein, einmal mehr. Rapunzel fällt mir ein, und Hölderlin. Klar haben die zwei nicht viel gemein, von ihrem mehr oder weniger unfreiwilligen Habitat mal abgesehen. Einer ging freiwillig in einem Turm, und es bekam ihm nicht sonderlich. Hauptsache, er selbst war bekömmlich, am Ende, das verrät uns die alte Legende nicht. Aber immerhin ein drastisches Beispiel, wie extremer Zynismus zum Verursacher zurückkommen kann.

Da bleibe ich lieber bei der magischen Realität.
Ohne Turm.
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Dienstag, 210119

Traumzeit

Er fährt eine ihm unbekannte Straße entlang, mit seinem Begleiter auf dem Beifahrersitz. Linker Hand erblickt er etwas, was er nicht glauben kann. Auf einer riesigen Fläche liegt ein umgestürzter Dom, eine geschliffene Kathedrale, 90 Grad gedreht auf ihrem Seitenschiff. Alter, verwitterter Sandstein, zugemauerte Fensternischen. Während er seinen Augen nicht traut, denkt er, dass selbst die Herren der 12 Jahre so etwas nicht fertig bekommen haben. Oder doch? 

Er hält an, steigt aus, gefolgt von seinem Begleiter, der sich diskret im Hintergrund hält. Es gibt keinen ursprünglichen Eingang mehr, nach einigen Suchen entdeckt er so eine Art Baustellen-Tür, ein Provisorium, das irgendwer angelegt haben könnte, der was auch immer darin zu tun hatte. Die Tür lässt sich öffnen, die beiden betreten eine Art Keller-Verschlag. Finster ist es, vom diffusen Licht der Straße mal abgesehen. Plötzlich hört er ein Geräusch, das ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ein wildes Tier, nicht weit entfernt, irgendwo nebenan, wo immer das auch ist. Von seinem Begleiter ist nichts mehr zu sehen. 

In einer Nische findet sich ein loses Brett, das sich leicht entfernen lässt. Wie aus dem Nichts hält er ein scharf geschliffenes Hackmesser in der Hand, kriecht durch die entstandene Lücke, findet sich in dem ehemaligen Kirchenschiff wieder. Bänke, merkwürdiger Weise aus Stein, ebenso verwittert wie das ganze Gemäuer, stehen rechtwinklig zu ihrer ursprünglichen Lage, ein bizarres Bild. Auf einem Mauervorsprung liegt ein altes Buch, er schlägt es auf. Alle Seiten sind fast vollständig geschwärzt, die wenigen erhaltenen Zeilen in Frakturschrift sind unleserlich verwittert. Ungläubig fährt er mit den Fingern über die geschwärzten Bereiche, spürt den Kohle-artigen Farbabrieb auf seiner Haut, während in der Finsternis, diesmal aber bedrohlich nahe, der Hüter der Stätte zu vernehmen ist, mit einem Schrei, nicht von dieser Welt. 

Ihm bleibt nur die schnelle Flucht, zusammen mit dem Vertrauen in das scharfe Messer, welches er Gott sei Dank nicht braucht. 

3.15 Uhr. Selten war die Freude über diese frühe Stunde vergleichbar groß …

Manche Nächte

Es gibt sie immer noch, diese Nächte. In Zeiten der Veränderung werden sie vorübergehend etwas zahlreicher. Nächte, in denen ich mehrfach aufwache, mir die ungebetenen Besucher anschaue. Eine Weile mit offenen Augen wach liege und in die Stille horche, weil sofortiges wieder-einschlafen nur eine Fortsetzung der Aufführung bedeuten würde.

Bildhafte Relikte eines Egos, das sich gerade von seinen bisherigen Aufgaben zu verabschieden scheint.  Sich an seine neue Rolle erst einmal gewöhnen darf. Und da Trennung immer mit einem energetischen Ungleichgewicht verbunden ist, schickt das solcher Art beschnittene Ego zum Abschied noch eben solche Bilder.

Schwarzer Rauch, aus der Erde aufsteigend
aus dem sich Gestalten formieren
auf der Suche nach einem Wirt
Prozessionen von Besessenen
langsam ohne Ziel wandernd
stets das Äußere verändernd
schwarze Magie

Bilder des Egos, das zum Abschied von der gewohnten Rolle, so scheint`s, noch einmal Macht demonstrieren will. Kannst uns kaufen, kichern sie leise. Da gibt es etwas, womit wir Dir Frieden schenken …komm`, besänftige uns, mach`s einfach so wie die Millionen anderer um dich herum und nehme etwas ein…

Sie gewähren lassend, weiß ich heute um eine Kraft, die größer ist als diese vielen schwarzen Schatten, die über die Angst so gerne ihre Macht demonstrieren. Eure Zeit ist vorüber. Früher oder später werdet ihr keinen Wirt mehr finden und weiter ziehen müssen.

Ihr seid nicht der Herr.

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