Samstag, 240217

Damit nicht vergessen wird, was Kriege und Größenwahn mit Kindern und Heranwachsenden anrichten. Aber auch, weil es für mich einem Wunder gleichkommt, dass dieser Mensch sich heute in seinem 89sten Lebensjahr befindet.

Einmal hatte ich so eine Unterleibsgeschichte, mit 16 oder so. Der Arzt verschrieb mir Zäpfchen zum einführen. Die konnte ich nicht nehmen, weil in dem winzigen Zimmer kein Platz für mich allein war, neben den 4 anderen Bewohnern. Bin zurück zum Arzt und habe ihm das erzählt, hatte Glück, der verstand mich und wies mich für eine Woche in ein Krankenhaus ein.

1951, Zeitzeugin, Jg. 1935

Nein, aus Liebe habe ich ihn nicht geheiratet. Ich wollte da heraus, in ein eigenes Leben. Der hatte, nachdem seine Mutter fort war, zwei Zimmer in einer zerbombten Baracke, durch die der Wind blies. Eines davon drohte ihm das Amt wegzunehmen. Als wir endlich heiraten und ich zu ihm ziehen durfte, konnten wir die beiden Zimmer behalten.

1954, Zeitzeugin, Jg. 1935

Mit 15 hatte ich mein erstes Zwölffingerdarmgeschwür. Kein Wunder, bei dem Essen und dem drumherum. Erst gab es, wenn überhaupt, Kohl, Sauerkraut und Brennnesseln, ohne alles. Faule Kartoffeln und schimmeliges Brot. Später dann alles fett, keiner hatte gesund kochen gelernt. Ich sah aus wie aus dem KZ, so Ärmchen. Ständig am kotzen, konnte nix bei mir behalten.

1952, Zeitzeugin, Jg. 1935

Jeden Morgen nach dem wachwerden freue ich mich auf den kommenden Tag

2024, Zeitzeugin, Jg. 1935

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Samstag, 231111

Still ruht der See, allgemein im Blogland des späten Samstags sowieso und hier im Speziellen auch. Ein leicht melancholischer, verdauungslastiger Couchundwolldeckenabhängenachmittag, nach einem fulminanten aushäusigen Essen mit Mutter. Originalzitat: Seniorenteller – so weit isses noch nicht. Recht so, Mutter, hau rein, egal ist 88, ab 90 kann man mal drüber nachdenken. Hauptsache, der Zucker bleibt im grünen Bereich. Faszinierend am Rande zu vermerken, wie sehr sie sich an ihrem Leben allein erfreut.

Zuhause. Sie hatte in ihrer Kindheit lange keines, das den Namen verdiente. Manchmal spricht sie davon, wie das damals war, mit 6 Personen in einem Zimmer. Man drehte ihr am Abend den einzigen Tisch um, paar Decken rein und fertig war ihr Nachtlager. Sie spricht manchmal vom Glück, jetzt so leben zu dürfen und dass sie nie gedacht hätte, im Alter mal so vergleichsweise gut dazustehen. Später Ausgleich für ein entbehrungsreiches Leben. So Gott will, hält das noch ein Weilchen an. Im nächsten Satz spricht sie über die Rückkehr der Kriegsfratze und wie schlimm das alles ist. Nicht für mich, sagt sie. Für euch …

Mal sinniere ich über unsere Familie nach. Irgendwie scheinen sich Schicksale wie Äußerlichkeiten jeweils über zwei Generationen zu gleichen. Mein Sohn hat die vollen Haare von seinem Großvater und ich die Beinaheglatze dito von dem Meinen. (Anmerkung: Eine kleine Glatze, eben Beinaheglatze, nennt man hier liebevoll Glätzken. Willkommen im Bergischen.) Meine Mutter wurde so alt wie ihre Großmutter, was sie selbst am wenigsten geahnt hat, bei allen Gebrechen in jungen Jahren. Ihre Mutter dagegen wurde nur 54 und starb jämmerlich in einem dunklen Loch an morphinbetäubten Tumordurchbrüchen. Alle Jahre wieder suche ich diese Gegend auf, das Haus steht noch. Hinterhof, zweite Reihe, nur durch einen Tunnel, die bergisch genannte Löv, erreichbar. Wurzelschau, ich war noch nicht in der Schule, als sie starb.

Mein Opa wurde 14 Jahre älter und hinterließ mir erschreckende astrologische Parallelen sowie besagte Haarpracht. Als Kind habe ich ihn geliebt, der so ganz anders lebte als alle anderen. Ein enger, bestens ausgestatteter Wohnwagen an einer Tanke bei Neuss, gleich um die Ecke sein Arbeitsplatz. Jedes Jahr Spanienurlaub, noch zu Francos Zeiten. Wenn er wiederkam, gab es Geschichten, Safran und Orangen. Später fuhr er einen Benz, hinten der Caravan und oben drauf ein Segelboot. Was er sonst noch (dem Vernehmen nach) gewesen sein soll, erfuhr ich erst viel später. Das dritte Reich und seine Kinder, die schon keine mehr waren. Tätergeneration, wie man heute sagt.

Von meines Vaters Familie weiß ich nur wenig. Das Umfeld bildungsfern, wie man es heute charmant nennt. Damals gab es andere Ausdrücke, die menschenverachtend brutal, aber nicht so verlogen klangen. Brutal auch der Umgang mit ihnen, die nicht so geraten waren wie das hochstilisierte Rassenideal. Da wurde geschnippelt, auf dass sich „sowas“ nicht mehr fortpflanze und weil es bei dieser Klientel eh nicht so genau kam, auch mal daneben, mit drastischen Folgen und frühem Tod im Krüppelheim, wie es damals hieß. Meine Mutter erzählte mir von den wenigen Besuchen bei meiner Großmutter väterlicherseits dort. Von Großraumschlafsälen und kaum vorhandener Betreuung. Die Bilder sind in meinem Kopf, man kennt sie aus alten Filmen, wenn dann. Ich mag sie nicht aufschreiben.

Ein Onkel des Vaters kümmerte sich nach Kräften um meinen Vater, der mit 14 allein da stand. Fernfahrer, ein Zwei-Meter-Schrank, der ab und an nach dem Rechten sah und was zu essen mitbrachte. Der im Spätsommer 44 nicht mehr nach Russland zurückging und sich mit geladener Waffe viele Monate erfolgreich bei seinen Liebschaften im Tal der Wupper versteckte. Er ist wie alle anderen seines Jahrgangs zum Militär gepresst worden, soff, um zu ertragen, was von ihm im Osten verlangt wurde zu tun. Bis er es nicht mehr konnte und sich auch im Vollrausch noch wahrnehmen musste. Ein Mensch, vor dem ich im Nachgang größten Respekt habe. Er starb früh, einst fuhren wir ihn besuchen, auch zusammengefallen ließ er Größe erahnen.

Alles in allem eine millionenfache Familiengeschichte, die sich kaum von anderen Schicksalen unterscheidet, außer vielleicht durch die gewaltigen Brüche, die mitten durch die Sippen gingen. Und selbst die sollen so selten nicht gewesen sein. Wenn ich versuche, den Bogen in die Gegenwart zu schlagen, verliere ich die Lust am schreiben. Werde still und dankbar für die Altbaubude hier, für das Dach über dem Kopf und die vielen erlebten Wandel in meinem Leben. Selbst wenn diese merkwürdigen Gesetzmäßigkeiten über zwei Generationen sich bei mir fortsetzen sollten, hat es sich doch bislang schon gelohnt, zu leben. Melancholische Lebensfreude mit einer ausgewachsenen Portion Neugier treiben mich voran, auf dass da noch was kommen möge.

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Sonntag, 211114

Der Tag beginnt typisch November grau in grau, dazu noch Volkstrauertag. Der Tag der Erinnerung an die Kriegstoten und die Opfer von Gewaltherrschaft aller Art. So ein Gedenken ist wichtig und richtig, ohne Zweifel. Für mich ist es allerdings genauso wichtig, zu verstehen, wie es in jedem Einzelfall so weit kommen konnte. Jeder Krieg, jedes Pogrom hat seine Geschichte. Geschichten, die immer verbal begannen, über Sanktionen und Ausgrenzung dann letztendlich zur Gewalt führten.

Heute sind die Methoden perfider, ausgefeilter und weitaus gefährlicher, weil nicht mehr klar erkennbar. Was ist schon daran gefährlich, den mündigen Bürger zum selber-denken aufzufordern? Der Kontext macht es, der Ton, die Art der Fragestellungen, im Hintergrund das Dauer-Rauschen des stets und ständig manipulierenden Staates, dem jedes Mittel recht ist, die Interessen bestimmter Gruppen durchzusetzen, korrupt, wie er sein soll. Und so werden Einzelfälle zur Norm stilisiert, Stimmung gemacht, zum zehnten Mal wiederholt, wird es dann gefallen. Was anstelle dessen treten mag, wird im Ungefähren gelassen, man arbeitet im Hintergrund an den Möglichkeiten. So gesehen steht die kommende Regierung unter einem enormen Erfolgsdruck. Scheitert sie, sind die Grünen in der nächsten, stramm konservativen Regierung nicht mehr vertreten. Mir bleibt zu hoffen, dass auch der letzte Dogmatiker dies erfassen kann.

Zurück zum heutigen Tag. Erinnerungen an meine Blutsverwandtschaft kommt auf. Wer mich länger kennt, weiß, dass ich zwischen geistiger und leiblicher Verwandtschaft unterscheide, Gold ist, wenn beide Hand in Hand gehen. Die Familie meiner Kindheit bestand in erster Linie aus Frauen, die den Horror des so genannten dritten Reiches irgendwie überlebt hatten. Männer gab es kaum noch, mein Opa mütterlicherseits hat den Krieg überlebt, vermutlich dank seines Unteroffiziers-Grades. Ich habe mich nie bemüht, herauszufinden, was genau er tat, es ist zu ahnen, das reicht mir schon. Also bestimmten Frauen das Geschehen, Tanten ohne Ende, die größtenteils auch gemeinsam in einem ärmlichen Hinterhofhaus lebten. Winzige Zimmer hinter engen Stiegen, mit Klo für je zwei auf halber Treppe. Jede war auf ihre Weise traumatisiert, sie waren füreinander da, alt wurden die meisten nicht. Familien-Fragmente, geprägt von Siechtum und frühen Toden einerseits und von Verdrängung, von Kompensation andererseits. Jeder, so gut er konnte, meine eigenen Eltern inbegriffen. Da ich nicht in ihren Schuhen gelaufen bin, fällt mir Vergebung immer noch nicht leicht, ist aber möglich. Ein steter, dynamischer Prozess, der immer wieder von Wut unterbrochen wird, aber dennoch in eine ganz bestimmte Richtung geht: Frieden mit mir, mit meiner Geschichte. Die Protagonisten werden in Kürze diese Welt verlassen müssen, ihr emotionales, geistiges Erbe wird mir zur weiteren Verarbeitung erhalten bleiben. Kann also nur von Nutzen sein, dieses kleine, noch verbleibende Zeitfenster bestmöglich zu nutzen, wohl wissend, dass dieser Prozess nicht mit dem Tod endet. Was bleibt, ist, um Führung zu bitten und tun, was ich kann.

Zum Ende ein wenig Farbe aus der Konserve, Bilder aus dem Kiez vor zwei Tagen.

Und – immer fein achtgeben, wir werden beobachtet.

Ölberg, Wuppertal

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