Sonntag, 231119

Osnabrück

Ein Abenteuer – ich fahre mit Regiobahnen und dergleichen vom Tal der Wupper nach Osnabrück und am selben Tag wieder heim. Der Sinn ist, aus virtuellen Bekannten Fleisch-und-Blut-gewordene Menschen werden zu lassen, was aus Zeitgründen leider nicht oft geht.

Hin geht fein, alles fährt pünktlich, ich bin fast 2 Stunden zu früh planmäßig am Ort. Eine kalte Novembersonne wärmt zwar nicht, sorgt aber für zauberhafte Lichtspiele. Mein Tagesplan richtet sich nach der Wettervorhersage.

Das Treffen war aufregend und erkenntnisreich, wir brunchen in einem hübschen Innenstadt-Cafe, unterhalten uns angeregt und vergessen ein wenig die Zeit. Unterschiedliche Lebensläufe, Männer und Frauen, meist jünger als ich (was mittlerweile häufiger vorkommt) aber eine uns verbindende gemeinsame Grunderkrankung. Zwar bin ich ein Mensch ohne Plan, aber mit viel Neugier, die mich immer wieder staunen lässt. Gleiche Schicksale treffen mit teilweise verschiedenen Sichtweisen aufeinander. Mal rede ich von mir, meist höre ich zu. Fazit: Gerne wieder, mit nehme ich die Bestätigung dessen – es führen viele Wege zum Ziel, mein Weg ist nur einer.

Die Rückfahrt gestaltet sich nass und holprig, Verspätungen und Zugausfälle summieren sich, die DB macht ihrem verkommenen Ruf alle Ehre, im Kontrast zur Anreise. Es stinkt nach schlechten Atem und nassen Menschen, aber ich fahre, immerhin. Mehrmaliges Umdisponieren per Apps hilft weiter, ebenso der Gedanke an mein Reisemaskottchen, eine extra originalverpackte Zahnbürste als Zeichen der Vorsorge, kombiniert mit Vertrauen in meine höhere Macht.

Vertrauen braucht auch mein Immunsystem, wenn ich nach diesem Tag gesund bleibe, hat es noch Hoffnung 🙂

Donnerstag, 220630

Meine Reisetaschen stehen bereits im Wohnzimmer, aber noch ist nichts entschieden. Am Nachmittag bin ich wieder in der Klinik. Mutter sagte am Telefon, Vater dürfe morgen wieder heim, die Schwester auf Station meint dagegen, mal sehen, CT stünde noch aus. Kaum bin ich im Zimmer, wird er auf den Flur gerollt, zum Transport in die Radiologie, am anderen Ende der Klinik. Wir warten auf den Transporteur, wir kennen uns schon. Ein kräftiger Kerl, der in seiner Zweidrittel-Stelle am Tag ca. 12 Km macht, im Stechschritt. Es geht über den Aufzug in den Keller und quer durch das marode Geschoss, die Klinik steht kurz vor dem Umzug in einem Neubau andernorts. Warten vor der Radiologie, Vater schimpft über das ständige warten. Im Prinzip ein Zeichen allmählicher Erholung, die Menschen auf Station nehmens gelassen, sie sind einiges gewohnt.

Wieder auf Station frage ich den behandelnden Arzt, ob er schon etwas sagen könne, aber es dauert noch, die Bilder gehen erst zu den Radiologie-Ärzten und von dort auf Station. Morgen wisse man mehr, wir vereinbaren einen Telefon-Anruf. Wenn nichts gravierendes dagegen spräche, könne Vater morgen heim. Ich bleibe noch eine Weile, erfahre, dass er Hilfe beim waschen bekam, mal sehen, wie das daheim weiter geht. Schluckauf hat er wieder, beim letzten Mal haben sie ihn schon diesbezüglich untersucht, Magenspiegelung eingeschlossen, ohne Befund. Psychosomatisch, meinen sie. Ich sage, warte mal ab, bis du in ein paar Tagen daheim zur Ruhe kommst, das gibt sich. Benommen mache ich mich auf dem Heimweg.

Zuhause halten wir Rat. Die Liebste sagt, wir bleiben hier. Alles so unsicher, Ruhe würde ich keine finden und sie hätte auch keine Freude an mir, dann. Sie kennt mich, und so entscheiden wir uns, zu bleiben. Mutter ist erleichtert, obgleich sie es sehr schade findet. Aber es fühlt sich für mich richtig an, das allein zählt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in ein paar Tagen erneut fällt, ist nicht gering, hatten wir alles schon. Und wieder höre ich diese Worte: Ich tue meine Pflicht, sagt sie. Das sage ich auch oft, meine ich, und dass es schon etwas mehr wäre. Wir sprechen über vergangenes, das angesichts seines Zustandes mehr und mehr verblasst. Vergebung geht, vergessen niemals, darin sind wir uns einig.

*

Es fehlen ein paar Dinge und wir machen uns gemeinsam auf in die Stadt. Hunger stellt sich ein und wir beschließen, irgendwo einzukehren. Gar nicht so einfach, Laden 1 will uns einen Katzentisch anbieten, Danke nein. Laden 2 ist leer, an der Wand steht was von Flammkuchen, aber der Kellner meint, Koch krank und die tägliche Lieferung sei auch ausgeblieben. Schlussendlich kehren wir in eine uralte Studentenkneipe ein, die sich tatsächlich über die Jahrzehnte behaupten konnte. Ein freie Tisch wartet auf uns, weiter hinten, wir nehmen Platz. Es ist laut und voll, alles redet durcheinander und ich höre ein paar despektierliche Bemerkungen über den Umstand, dass ich offensichtlich der einzige Maskenträger hier bin. Ein dummes Lied fällt mir ein und eine komische Pflanze. Eine Weile sitzen wir da und warten auf das Essen, das alsbald kommt und so langsam entrollen sich die Blätter der komischen Pflanze wieder.

Das folgende wäre so nie geschehen, hätten wir uns entschieden zu fahren. In dem Fall hätten wir ein Restefest aus dem Kühlschrank gestartet und ansonsten Zeug zusammengesucht. Und auch der Katzentisch sowie der leidende Koch aus Laden 2 passen in das Bild, wir sollten genau dort sein, wo wir letztendlich landeten. Während wir noch auf den Espresso warten, steht urplötzlich eine junge Frau vor uns, begrüßt uns freudestrahlend, fragt, wie es uns geht. Die Liebste ist ratlos und selbst brauche ich einen kleinen Moment. Diese Augen. Es sind die Augen der Mutter meines Sohnes, der Halbschwester meines großen Kindes, zu der ich seit damals aus vielerlei Gründen keinen Kontakt mehr habe. Eine Passage in meinem (nassen) Leben, die ich nicht ungeschehen machen kann und für die ich mich immer noch schäme. All dies ist für einen Moment nicht existent, ich stehe auf und wir nehmen uns herzlich in die Arme. Sie ist mit einer Freundin dort, am Nachbartisch, ich hätte sie nicht erkannt, wäre sie nicht auf uns zugegangen. Wir wechseln ein paar freundliche Worte, bevor sie wieder Platz nimmt und ich spüre, wie mir die Augen feucht werden.

An der Stelle schließt sich in mir innerlich ein Kreis. Vergebung und vergessen. Sie wird niemals vergessen, aber diese Augen lassen auf Vergebung schließen. Ich bin tief bewegt – was für eine Zeit!

*

Sonntag, 201108

Barak Obama, 7.11.2020

Ein Wochenende ohne besondere Vorkommnisse, zumindest, was mein Leben so angeht. Politisch und Seuchen-technisch mag das anders ausschauen. Hinter dem großen Teich haben sie einen neuen Häuptling gewählt, während der alte noch am Stuhl klebt. Unsäglich, dieser Mensch. Scham-erfüllt wende ich mich ab, denke an den Schuh, der einst George W hinterher flog. Wenn eine Geste passt, dann die. Nichtsdestotrotz ist es erst einmal Sache der Amerikaner, wie, warum und wen sie wählen. Zwar strahlt es bis hier her, was dort geschieht, ist dennoch weit außerhalb dessen, worauf ich auch nur den geringsten Einfluss habe. Mir reichen die Verhältnisse hierzulande schon. Zumal sich in der Sache nicht viel ändern dürfte, zumindest handelstechnisch. Militärisch schon eher, aber im wesentlichen dürfte ein neuer Ton in den Umgang kommen – das ist schon mal eine ganze Menge, hat doch viel mit gegenseitigen Respekt zu tun, auch, wenn man nicht unbedingt einer Meinung ist.

Ein Wort noch an alle, die glauben, es ginge sie nichts an. Wir alle sind dicht verwoben in einem engen Netz aus wechselseitigen Abhängigkeiten. Der Yoga-Lehrer aus dem Studio, der Lehrer in der Schule, der Mitarbeiter im Gesundheitswesen, sie alle haben eine Menge mit dem Werker am Band eines Automobil-Zulieferers zu tun, werden doch hier die Erträge erwirtschaftet, die andernorts dann abgeschöpft werden und so anderen ihre Existenz ermöglichen. Am Handel hängt alles, gehen doch von 3 produzierten Oberklasse-Fahrzeugen 2 in den Export, davon eines in die Staaten. Ebenso der deutsche Maschinenbau, der weltweit einen exzellenten Ruf hat. Ein würdiger Umgang miteinander tut also Not, angesichts unseres gewaltigen Außenhandels-Überschusses, der uns allen zumindest in „normalen“ Zeiten ein Auskommen ermöglicht.

Sonst so? Gestern Abend schauten wir Bohemien Rhapsodie, den Film von 2018. Erinnerungen wurden wach, aus einer Zeit, in der das Leben eine Menge Euphorie lieferte, in meinem Fall noch gut verstärkt durch den Einsatz von Alkohol und Drogen. Gänsehaut beim hören und sehen, Erinnerungen und Menschen und Jahre. Es gibt Zustände, die liefert einem das Leben nur mit 18, 20. Später dann in dieser Form nie wieder. Anders, ja. Nicht so hoch, aber tiefer.

Weil`s jetzt sein muss.

Berührung und Nähe. Zu dem Thema habe ich eine guten Artikel gefunden, aus dem Sommer diesen Jahres. Nachzulesen ohne Bezahlschranke HIER bei den Krautreportern. Wenn mir etwas fehlt, dann die Möglichkeit, andere Menschen ohne Angst umarmen zu können, zumal ich so lange gebraucht habe, das zu lernen, bzw. zuzulassen. Auch hier wieder – ES findet sich, kein Staat kann so etwas dauerhaft unterbinden, Ansteckung hin, Seuche her. Wir werden lernen, damit neu umzugehen.

Nähe? Geben die hier auch, die Opportunisten vor dem Herrn. Wenn, dann ehrlich. Bild 2 ist ein Suchbild, irgendwo ist ein Auge versteckt, in dem geplatzten Sofakissen 🙂

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Samstag, 201010

Ein Lied für all die, die gerne etwas mehr sein möchten, als sie sind. Für all die Nachtschattengewächse, für die Gerne-Großen. Für die mit dem großen Herzen, die das Unglück anzuziehen scheinen. Für die Blender mit der tiefen Stimme. Für all die, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen. Für die aus der 17ten Etage im Hochhaus, welche die letzten 14 Stockwerke laufen müssen, weil der Knopf für Stock 4 schon außerhalb der Reichweite ihrer Arme liegt. Für die, die oft verlacht werden und in der Nacht über sich hinaus wachsen.

Ludwig Hirsch: Mein Freund, der Zwerg.

und sag zu ihm „Sie“, weil das is er nicht gwohnt!

Nur einmeterzehne, von oben bis ganz unt‘,
an Kopf wie a Fassl, so schwer und so rund,
a Stimm wie der Bronson, in Cinemascope,
potent wie a Büffel, aber einsam wie der Tod,
so kommt er daher, mein Freund der Zwerg,
er tut sich halt schwer, mein Freund der Zwerg.
In stockdunkler Nacht schleicht er oft aus dem Haus,
versteckt er sich gschickt und is still wie a Maus,
kommen welche vorbei, dann ruft er „Helloh“,
die glauben s’war der Bronson und rennen davon,
dann feixt er halt sehr, mein Freund der Zwerg,
es hilft ihm halt sehr, mein‘ Freund dem Zwerg.
Vielleicht triffst ihn amal, irgendwo, irgendwann,
dann verbeiß dir dein Lachen, fallt’s auch schwer,
reiß dich zamm, lad ihn ein auf a Madl, schön groß, grad und blond
und sag zu ihm „Sie“, weil das is er nicht gwohnt!
Er hat auch an Feind, a beinharte Sau,
der passt ihn oft ab und haut ihn ganz blau,
der haut ihn so lang, bis das Zwergenblut rinnt,
es is dem Nachbarn sein Bub, sieben Jahr is das Kind.
Und dann schreit er halt sehr, mein Freund der Zwerg,
er tut sich halt schwer, mein Freund der Zwerg.
Daham ganz allein, da träumt er so oft,
da is er der David, der den Goliath verklopft,
da tanzt er im Zirkus und das Publikum pascht,
da is er der Zwerg, der’s Schneewittchen vernascht
und so träumt er daher, mein Freund der Zwerg,
er hat’s eh so schwer, mein Freund der Zwerg.
Vielleicht triffst ihn amal, irgendwo, irgendwann,
dann verbeiß dir dein Lachen, fallt’s auch schwer,
reiß dich zamm, lad ihn ein auf a Madl, schön groß, grad und blo
nd
und sag zu ihm „Sie“, weil das is er nicht gwohnt!

Berührung

Gestern auf dem Straßenfest. Hinter einem Stand mit dem üblichen Hausrat und Klamotten stehen mehrere junge Menschen, probieren begeistert selbst das feilgebotene Zeug an, schauen das Ergebnis in einem alten Spiegel, schwatzen und freuen sich am Tag. Auf einem Stück Pappe wird in Blockschrift, geschrieben mit`m dicken Edding, Rücken- und Handmassage sowie Tarot gegen Spende offeriert. Ich bleibe stehen und denke, kundige Hände könnten mir gut tun, von wem auch immer. Absichtslose Berührung, mitten im dicken Trubel. Also frage ich nach, eine junge Dame strahlt mich an, ich möge Platz nehmen und weist auf einem winzigen, dreibeinigen Klappschemel vor dem hinter dem Stand gelegenen Hauseingang. Ich nehme Platz, sie auf den Stufen hinter mir, und ich genieße die Berührung.

Niemand nimmt Notiz von uns, nur die Frau gegenüber, die mir gerade eben mein neues Herz fast geschenkt hat, guckt und grinst. Nach einigen Minuten bedanke ich mich, während ich über die gewünschte Spende nachdenke. Euronen sind bestimmt gewünscht, erscheinen mir aber irgendwie unangebracht. So frage ich die Dame mit den einfühlsamen Händen, ob wir jetzt die Plätze tauschen wollen, sozusagen uns etwas gegenseitig spenden. Zu meiner Überraschung lässt sie sich freudestrahlend darauf ein, womit ich nicht wirklich gerechnet habe. So fließt Energie aus der Berührung in beiden Richtungen und wir bedanken uns nach einigen weiteren Minuten gegenseitig. Eine kurze Umarmung, wir wünschen uns noch gegenseitig einen guten Tag und ich ziehe meines Weges.

Energie und Vertrauen. Einfach so.
Selten, aber möglich …

Und – der Klassiker im Dauer-Abo 🙂

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Wie tankst Du Kraft?

So lautete die Frage eines lieben Menschen, nebenan beim blauen Buch. Die Antwort fällt mir immer dann schwer, wenn ich gerade müde, platt, mit den Nerven herunter bin oder mich schlicht sehr leer und dunkel fühle (der schwarze Vogel lässt grüßen). Zustände, die Gott sei Dank nur temporär sind und nicht dazu neigen, sich zu manifestieren. Eigentlich ist es schon einiges, mit dem ich weder zu Kräften finde. Hier also mal der Versuch, dieses in loser Folge zusammen zu schreiben.

Gutes Essen, gerne selbst gemacht, ist immer hilfreich.
Licht, Luft, und Bewegung wirken Wunder.
Musik, mal still, mal wuchtig, immer intensiv.
Bücher – regen den Geist an, oder, je nach Genre, ab.

Aber auch die so genannten Kleinigkeiten bauen ungemein auf. Meine allmorgendlichen Übungen für Leib und Seele. Der Geruch und Geschmack von frisch gebrühten Sencha-Grüntee. Sinnlichkeit auf allen Ebenen, so auch der Duft von ätherischen Ölen, gerne Jasmin mit Ylan-Ylan.  Berührung  – sei es in der direkten Begegnung oder visuell hier beim lesen und schreiben. Das Gefühl von Dankbarkeit, berührbar zu sein, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, unberührbar zu sein.

Alles zusammen schon eine ganze Menge, wie ich finde. Alles zu seiner Zeit und gemeinsam hilft es, den schwarzen Vogel zu besänftigen. Schimpfen hilft nicht, und fort will er auch nicht. Soll er also bleiben, wo er ist, auch, wenn wir keine Freunde werden, können wir doch miteinander auskommen.

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