Klingt provokant, dieses „Na und“, angesichts der Schwere mancher Verletzungen. Und dennoch ist viel Wahrheit damit verbunden.
Anfang 2000
Seit ein paar Monaten trocken und clean – plärrte dieses Lied permanent aus meinem Kassettenrecorder im Auto, während ich die Welt neu entdeckte. Ursachenforschung, Analyse, der Versuch, etwas mit dem Verstand zu erfassen, nicht mit dem Herzen, noch gefangen im Prinzip Schuld. Erst viel später las ich die beiden für mich sehr bedeutungsschweren Worte vom Pfarrer Kappes: Na und? Frei zitiert meinte er damit folgendes – Du hast diese oder jene Familiengeschichte, diese oder jene Diagnose – na und? Willst du heil werden, willst du mit ganzer Seele, mit ganzem Herzen heil werden? Das allein zählt.
Heil werden ist (auch) eine Entscheidung.
Who made who, who made you? Who made who, ain’t nobody told you? Who made who, who made you? If you made them and they made you Who picked up the bill, and who made who?
Ein freier Samstag-Nachmittag, nach den üblichen Verrichtungen in Sachen Haushalt und Eltern. Allein mit zwei Katzen und unternehmungslustig, also raus. Nach Auto fahren steht mir nicht der Sinn, das ganze Umhergegurke die Berge heraus und herunter reicht mir und so fahre ich mit der Bahn zur Müngstener Brücke. Die feiert sich gerade selbst, nach langjähriger Restaurierung. Von oben sieht man eine Menge Menschen rund um das Haus der Lebenshilfe in seinem rostroten Kleid.
Erinnerungen werden wach, das war vor 30 Jahren mal mein Arbeitsweg. Und noch mal 10 Jahre zurück – Müngsten, das waren damals zwei verkomme Parkplätze, in deren Umfeld öfter schon Mal Übles passierte. Verruchte Gegend, hin und wieder dümpelten Leichen im stinkenden Wasser und die gleich unter der Brücke platzierten Andenkenbuden hatten gelegentlich Löcher in den Dächern, wenn wieder wer von der Brücke sprang. Und – es gab das Exit, da, wo jetzt das rostrote Unding steht, ein wurm- und schwammstichiges Fachwerkhaus, das am Ende nur noch zum Abriss taugte. Der Ort, um sich am frühen Sonntag Morgen den Rest zu geben, so man denn noch irgend einen Plan hatte, wieder aus dem Loch heim zu kommen. Alles Geschichte, heute ist dort der Brückenpark und die Dachdecker kommen dem Vernehmen nach auch nicht mehr so häufig.
Viel zu sehen gibt es nicht, vor der Rostlaube wird gesetzt musiziert, mit geladenen Gästen, und so mache ich mich wieder auf dem Weg, erwische einen Bus nach Remscheid und von dort eine S-Bahn zurück nach Wuppertal.
Impressionen von Brücke und Bahnhof Güldenwerth zu Remscheid.
Bahnsteig-Panorama
Wieder im Tal der Wupper mache ich Rast in einem mutmaßlichen Geldwäsche-Laden. Ich bin der einzige Gast, der Wirt ist sehr sorry wegen dem nicht mehr vorhandenen Bändel am Teebeutel (Löffel zum rausfischen liegt dabei), die Wasserflasche kommt ohne Glas, aber die Pizza schmeckt. Mittlerweile ist es kühl geworden, ich ziehe mir mein Psalm-23-Sweatshirt über. I will fear no evil. Stimmt zwar nicht ganz, aber die Botschaft hat was. Denken auch andere, wie verstohlene Blicke mir sagen. Scheint nicht nur zu mir, sondern auch in die Zeit zu passen.
Und so laufe ich durch das samstägliche Gewusel, denke an einen Kommentar, den ich heute Abend geschrieben habe. Vom gefühlt dazu-gehören oder eben auch nicht. Vom sich-verloren-fühlen und von Geborgenheit. Vom all-eins-sein und vom heil werden. Denke an die zahllosen Spiegelbilder in meinem Leben. Die Liebste fällt mir ein, die gerade in Sachen Familie ihr Bestes gibt, damit ein paar Kinder eben nicht mit so einem Lebensgefühl umherlaufen müssen. Wäre gern dabei, aber mal eben frei machen, wenn ich so wie jetzt in einem längerfristigen Projekt stecke, das geht nicht.
Oder ganz frisch der Typ in der Bahn, mir gegenüber, der mit seinem Zeug zwei Plätze in Besitz nahm. Finstere Miene, die sich (synchron mit der meinen) erhellte, als eine junge Mutter ohne groß zu fragen Platz machte, für sich und ihre kleine Tochter. Öffentliche Verkehrsmittel haben einen gewissen therapeutischen Wert und eignen sich hervorragend für Milieustudien aller Art.
Rückzug, tief in mir. Beim Wassertiger habe ich dem letzten Eintrag ein Update verpasst. Mehr werde ich mich nicht auslassen, über die derzeitige Lage. Für mich sind, nicht zuletzt aus familiären Gründen, derzeit andere Kräfte gefordert.
Das betrifft meinen Glauben, mein Vertrauen, meinen Umgang mit der Angst, die eigene und die anderer Menschen. Ich habe das schonmal angedeutet, seit Jahresbeginn digitalisiere ich Texte von Heinz Kappes, für eine Whatsapp-Grupp, aber auch für unser Literatur-Meeting hier nebenan. Es ist eigenartig, wie es mir dabei ergeht. Zunächst einmal ist Verstand gefragt, eine App zu bedienen, den gescannten Text irgendwie vom Phon auf den Rechner in ein Textverarbeitungsprogramm zu bekommen und ihn dann anschließend aufzuarbeiten. Ihn neu strukturieren, Scann-Fehler korrigieren, die Rechtschreibung auf einen aktuellen Stand zu bringen, Absätze an den rechten Stellen schaffen, das Ganze in ein vortragbares Format zu bringen. Dann erst, wenn mir das so Geschaffene oberflächlich einigermaßen gefällt, lese ich es mehrfach und möchte nicht verstehen, sondern erfassen, was gesagt wurde. Einen ersten Eindruck gibt es bereits beim aufarbeiten, aber der Verstand ist beim erfassen, beim nachspüren oft hinderlich. Wie sehr mich das gelesene berührt, merke ich spätestens dann, wenn sich Tränen lösen.
Mir war nicht klar, dass es für alles, was ich bislang im Ansatz verinnerlicht habe und vertiefen möchte, schon sehr aktive Vertreter gab, wie Heinz Kappes einer war. Einen Text über die Auflösung von Angst habe ich hochgeladen, soweit ich weiß, ist die nicht-kommerzielle Nutzung gestattet. Er berührt mein Verständnis über unser Dasein, klingt zunächst ein wenig theologisch, ist aber in sich schlüssig und berührt mich zutiefst. Wer an solchen Themen Interesse hat, kann hier nachlesen. Das ist mein Weg, dorthin bewege ich mich, über die Mitarbeit in den einschlägigen Gruppen.
So, und nun werde ich gleich an die Sonne gehen. Nachrichten werden limitiert konsumiert und eine Stunde vor der Nachtruhe nicht mehr.
Und nein, mein Glaube ist nicht die Enklave meiner Wahl, in der ich mich verstecke.
…Ich steig den Berg herunter Geh ins eine oder andere Tal Es ist geflaggt in allen Farben In Bergisch-Karabach…
Gestern beim Abendessen gerne gesehen: Sie nannten ihn Mücke, Anno 1978. Herrlicher Klamauk, bar jedes intellektuell fordernden Inhaltes, immer schön auf die Fresse. Und gewonnen haben sie am Ende doch noch, die Spacken aus dem Küstendorf.
Und auch sonst gibt es zu dem Jahr 1978 noch einiges zu sagen. Ende meiner verhassten Schulzeit, Beginn meiner Berufsausbildung, der erste heftige Liebeskummer, viele neue Menschen, neue Kumpels und Freunde über die Lehrstelle. In Verbund mit ihnen der famose Start in meine Suchterkrankung, äußerlich sichtbar in bis an die Grenze des zeitlich machbaren, lautstark zelebrierte Wochenend-Besäufnisse, also von Freitag Abend bis maximal Sonntag Mittag. Erstes Gefühl von loser Zugehörigkeit, bis dahin weitestgehend unbekannt. Die Aussicht auf Befreiung von der Enge des Elternhauses, die sich vier Jahre später rein praktisch, aber natürlich innerlich erfolglos durchführen ließ. Einmal angelegte „familiäre Sozialisation“ im Kindesalter klebte wie Scheiße am Schuh, verband sich mit nicht sichtbaren Fesseln, wurde maskiert mit heftigen Besäufnissen, später im Verbund mit anderen Mitteln. Bis es nichts mehr zu maskieren gab, 22 Jahre später.
Meiner Jugend hinterher trauern? Never. Älter werden hat echte Vorteile, allen damit verbundenen körperlichen Begleiterscheinungen zum Trotz. So grenzt es heute für mich an ein kleines Wunder neuronaler Art, dass sich trotz rauschbedingten massenhaften Zell-Sterbens in meiner Birne der schäbige Rest in einer bekömmlichen Weise neu formiert hat, wenn auch über viele Jahre harten Lernens, unzählige gefühlt hilflos ausgelieferten Lebenslagen inbegriffen. Gefühlt, weil letztendlich nicht real, ich habe Schutz und Geborgenheit gefunden, das größte Geschenk der Abstinenz.
Sonst so? Einen guten Youtube-MP3-Konverter gefunden, sauber von Viren, weitestgehend frei von Werbegezappel sowie lästigen, mit zu installierenden „Beifang“, der dann mühsam wieder rausgeworfen werden will. Und so entstand gestern schon eine schöne Live-CD von Judas Priest`s Epitaph., im Handel nur als DVD oder Blue-Ray verfügbar. Feine, zum privaten Gebrauch auch durchaus legale Mucke zum Auto-fahren.
Und – last not least – richtig, Katzen-Content. Es hat auf der Küchen-Fensterbank einen Korb, ursprünglich besiedelten den diverse Kräuter-Pötte. Soweit der Plan. Nachdem die Kleine diese ca. ein halbes Dutzend Mal auf den Boden geworfen hat, um Platz für ihren zarten Körper zu schaffen, haben wir kapituliert, das Ding gesäubert und ihr zur gefälligen Verfügung gestellt.
Wenn am frühen Morgen die Nase trotz Spülung nicht wirklich frei ist, die Bronchien das atmen erschweren, wenn die Energien nicht fließen wollen. Wenn die Nachtschatten nicht weichen wollen. Wenn Gelenke und Sehnen schmerzen.
Die gute halbe Stunde Übung schafft Linderung, einen etwas besseren Energiefluss. Ein wenig mehr Zuversicht für den Tag, ein wenig mehr Vertrauen in das Leben.
Eigentlich ist es einfach. Einfach anfangen. Die Trägheit überwinden. Das Phon weg legen und sich für eine Weile nicht mit den Leben der anderen beschäftigen. Anfangen ist immer die größte Hürde, gleich neben dem Vertrauen auf die langsam einsetzende Wirkung, gefolgt von der Geduld, sich Veränderung regelrecht zu erarbeiten, langsam, in Ruhe. Die Befindlichkeit – ohne sofort wirkende Chemie – zu verändern, dauert eben, geht aber.
Drei Meetings, hintereinander, was für mich ein ungewöhnliche Dichte darstellt. Angefangen am Feiertag mit dem diesjährigen Herbsttreffen der anonymen Alkoholiker, über unser reguläres Meeting am Freitag Abend hin zu unserem so genannten spirituellem Meeting, was eigentlich eine unpassende Bezeichnung ist, wie ich finde, derweil die meisten Meetings ausgesprochen spirituell verlaufen. Der Unterschied besteht im ersten Teil des Meetings, in dem ein etwas längerer Text gemeinsam gelesen wird, die darauf folgenden Wortmeldungen lehnen sich am Gelesenen an.
Was macht das mit mir? Ich fühle mich zum einen gekräftigt, geerdet, mir selbst und meinem Schöpfer etwas näher. Und – als Mitglied so einer immer noch großen, hilfreichen und weltweiten Gemeinschaft bin ich nicht allein mit meinen Lebensschwierigkeiten, mit meiner unheilbaren Suchterkrankung die sich daraus entwickelt hat. Zuzüglich der Lebensschwierigkeiten, die sich aus der Suchterkrankung entwickelt haben. Und – es wird bei aller Ernsthaftigkeit auch gelacht.
Wärme, Nähe, Geborgenheit, Gemeinschaft.
Es geht mir gut, heute. Jetzt. Ich halte den Zeitraum kurz, was mein Befinden angeht, dafür ändert sich das zu schnell. Überhaupt, die Zeit. Heute gibt es schmerzhafte Stunden und manchmal auch Tage. Früher waren es Jahre.
Sonst so? Heute ist Erntedankfest. Zeit, das zu tun, was gerne zu kurz kommt, bei mir. Dankbar sein, für das, was ich habe. Nicht nur auf dem Teller, sondern überhaupt in meinem Leben. Was Feldpflege bedingt, pflügen, sähen, ernten eben. Manchmal auch harte Arbeit.
Und – Sonntag ist auch noch, und früh genug für das alte Lied…
Aufgefallen ist mir der etwas blumige Name der Organisation, bei der die Pfarrerin, welche hier im Tal die allwöchentliche kontemplative Meditation leitet, Mitglied ist:
Nichtwissen wohlgemerkt ohne „s“, was einen kleinen, aber bedeutenden Unterschied macht. Hingeführt worden bin ich auf der immerwährenden Suche nach Einheit, nach Frieden in mir, ausgelöst durch eine handfeste Krise Anfang des Jahres. Nachdem therapeutische Ansätze fürs Erste gescheitert sind (wer je versucht hat, nach einem 8- oder 9-Stunden-Tag mit anschließendem Kampf durch den Berufsverkehr offen für tief Hintergründiges zu sein, wird verstehen, was ich meine). Medikamente können allenfalls eine Übergangslösung darstellen, sind darum auch nur temporär hilfreich.
So tat ich mich in Gemeinde und Freundeskreis um und fand zu dieser Gruppe. Meine ersten Erfahrungen habe ich versucht, hier ein wenig zu beschreiben. Der oben beschriebene Name der Vereinigung führte mich auch zu einem gleichnamigen Buch aus dem Herder-Verlag, welches ich mir besorgt habe. Natürlich kann das Lesen über Meditation immer nur Hintergründiges sowie Geschichtliches erklären und nie die Praxis ersetzen. Worte dafür zu finden, ist eh schwierig, wie auch Ananda schon treffend bemerkte. Hier mal ein kleiner Auszug, es ist schon interessant zu lesen:
Übrigens – auch ich bin ein großer Freund von regionalen Geschäften. Buch-Rezensionen lese ich beim bekannten Versandriesen, online bestellen und kaufen jedoch in einer örtlichen Buchhandlung um die Ecke sozusagen. Kann vor Ort abgeholt werden, geht flotter als mit dem Branchenriesen und stützt die heimische Wirtschaft …
Jemand drückt mir einen Zettel in die Hand, der dann für eine Weile in der Hosentasche verschwindet. Irgendwann fällt er mir entgegen, sozusagen. Hat vielleicht auf mich gewartet …
Von der Kleinen wird man vermutlich noch hören, sie hat für mich großes Talent und eine tolle Bühnenpräsenz. Gerade 21 jetzt, hat sie es mit 17 via Magic Mushrooms geschafft, in eine handfeste Psychose zu rutschen, um dann über 9 Monate Klinikaufenthalt zurück in`s Leben zu finden. Die Musik hat ihr dabei geholfen, sich wieder zu finden. Die Gitarre ist ihr Hausinstrument, aber sie spielt auch noch etliche weitere, die sie sich selbst beigebracht hat.
Mag ich, so junge Menschen, denen schon von weiten anzusehen ist, dass sie jede Menge Freude und Intensität mit ihrer Musik leben.