Schwebezeit, die Zeit zwischen Tod und Beisetzung des Vaters. Ein Trauerredner besucht Mutter, versucht ein intuitives Bild meines Vaters zu erlangen, um passend zu sprechen. Ich schreibe ihm ergänzend ein paar Zeilen, derweil ich nicht dabei sein konnte. Bin gespannt, was er draus macht.
Die letzten Monate schlagen zurück. Körperlich, mit voller Kraft. Entzündungen da und dort im Bewegungsapparat, bücken und beugen geht nur unglaublich langsam und gefühlt 20 Jahre älter. Zum Schildkrötendasein kommt noch eine Impfreaktion vom feinsten, auf die gestern erfolgte erste Herpes-Zoster-Schutzimpfung. Ab 60 gibt es die von der Kasse. Vier Mal Covid war ein Scheiß dagegen, das ist eine andere Liga, so richtig mit dicken Aua-Arm und Grippesachen. Ergänzt gut das derzeitige Allgemeinbefinden – ist aber immer noch besser als Gürtelrose 2.0 .
Am Montag ist die Beisetzung. Bis Freitag darauf bin ich aus dem Verkehr gezogen, zunächst. Habe mich selten so derangiert gefühlt.
Wenn mein Herz zu schwer wird, mache ich mich nützlich, weil das so schön ablenkt, widme ich mich den unausweichlichen Verwaltungsdingen und lerne. Die deutsche Rentenversicherung nimmt Anträge auf Hinterbliebenenrente nur noch telefonisch entgegen. Dafür wiederum muss telefonisch (kein Witz) im Vorfeld ein Termin gemacht werden. Halbe Stunde Warteschleife und ich verstehe mein Gegenüber kaum. Das sage ich ihr, woraufhin die auflegt. Kennt ihr diesen aufsteigenden Hass, verbunden mir handfesten Gewaltphantasien? Nützt bloß nichts, also nochmal angerufen, wieder ein gute halbe Stunde Tüdelü im Ohr. Diesmal klappt es besser und ich vereinbare einen Termin auf Mutters Festnetz-Telefon, hetzte mich ab, um zeitig dort zu sein, derweil für das altersschwache Gerät zuvor noch ein Satz neue Akkus besorgt werden muss.
Der Tisch sieht interessant aus, ich habe mir alles zurechtgelegt. Personalausweis, Krankenversicherungskarte, EC-Karte, Rentenausweis, die letzten Rentenbescheide, Heirats- und Sterbeurkunde, Notizblock und Schreiber. Sie haben alle Daten, aber wollen sie alle nochmal hören, am Telefon. Streng dich gefälligst an, sonst gibt es keine Belohnung. Und so ist zumindest in der Theorie eine fast 88-jährige Frau gefordert, telefonisch endlos lange, kleingedruckte Zahlenkolonnen vorzutragen, die sowieso schon im System sind. Und sie haben Wünsche , die sie zum Zeitpunkt der Bewilligung von Vaters Altersrente noch nicht hatten. Seinen Gesellenbrief wollen sie sehen. Der ist weg, nicht mehr auffindbar. Die IHK fühlt sich nicht zuständig und verweist auf die Kreishandwerkerschaft. Die Mitarbeiterin dort ist zuvorkommend – welch Balsam für mich – Sie erklärt sich bereit, in die dunklen und staubigen Archive herabzusteigen, um nach Beweise für Vaters Lehrjahre zu suchen. Eine Zweitschrift von dem Ding gibt es natürlich nicht mehr, aber immerhin ist der Zeitraum archiviert. Der Ausdruck davon kostet 30 Euro Schmerzensgeld für die Niesattacken der Kollegin, soll mir aber hoffentlich eine große Hilfe sein.
Im April 1948 – also noch vor der Währungsreform – hat mein Vater also seine Lehre begonnen, erfahre ich. Mir fallen seine Erzählungen wieder ein, über die Schwäche und den Hunger, Essen gab es manchmal vom Lehrherrn, wenn mein Vater seinen Knochenjob dort nicht mehr machen konnte und einfach umfiel. Ich erinnere mich, dass er seinen Meister mal fragte, ob er sich nicht auch so einen modernen Lieferwagen, wie sie hier und da schon zu sehen waren, kaufen wolle. Wozu?, lautete die Antwort. Ich habe doch dich. Du bist billiger. Und so durfte mein 14-jähriger Vater weiterhin allein mit einem Bollerwagen Zentner-schwere fertige Holz-Konstrukte für Bandwebstühle von Langerfeld nach Barmen ziehen. Unvorstellbar, heute.
Irgendwie schließt sich so ein Kreis, zwischen den bürokratischen Notwendigkeiten und dem damit verbundenen Abtauchen in das Leben meines Vaters.
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