Donnerstag, 221103

Ein typischer November-Eintrag.

Heimkommen. Im mehrfachen Sinne. Windige, meerige Familientage sind vorüber, Geselligkeit hatte ebenso ihren Platz wie das Alleinsein und die Trauer. Die ist immer wieder zu Gast und das wird so lange dauern, wie es dauert. Ein Teil davon ist mir im Laufe meines Lebens zur zweiten Natur geworden, obgleich ich Humor habe und gerne lache. Das Loch von einst gibt es nicht mehr in gehabter Form, ich fühle mich schon getragen und geborgen, alles in allem. Mit den wahrscheinlich bei allen Menschen üblichen Schwankungen.

Bei aller Vertrautheit um mich herum fühlt sich diese Zeit für mich immer auch nach Abschied an, und damit meine ich nicht nur den Tod meines Vaters und den hoffentlich noch ein Weilchen dauernden Seitenwechsel meiner Mutter. Abschied von so mancher Körperlichkeit, auch von der eigenen Vitalität, der zunehmend degenerative Kräfte zu schaffen machen. Abschied von manchen Beziehungsbild, den ich so vor 10 oder 15 Jahren nicht hingenommen hätte. Aber etwas anderes gesellt sich zu mir – Tiefgang, im Rahmen des mir möglichen. Auch wenn alter Pessimismus sich immer wieder Bahn brechen möchte, spüre ich doch Vertrauen in den großen Plan, Zuversicht und Hoffnung. So kann das gerne weitergehen, allerdings wird mir zunehmend klarer – von allein wird das nicht unbedingt etwas. Eine gerichtete Lebensführung ist unerlässlich dazu, gelegentliche Pendeleien inbegriffen.

Sonntag, 220710

Vater im Krankenhaus

Freitag, 220708

Einige Telefonate, keine Neuigkeiten. Der Pflegedienst wurde über den Stand der Dinge informiert, lange Gespräche mit Mutter, es geht um ihre ebenso überschaubare Lebenszeit, aber auch um Zwiespalt und schlechtes Gewissen. Alles in allem wirkt sie trotz alledem erleichtert, nun ihre Ruhe zu haben, was ich gut verstehen kann. Ihre Haltung ist Gott sei Dank unverändert.

Wir können nicht wissen, ob Vater nochmal aufnahmefähig sein wird, akustisch und/oder geistig. Und falls, wie wird er reagieren? Einsicht war nie seine Stärke, ich befürchte, dass er sich verraten und verkauft vorkommt, wenn dann. Vielleicht ist unser Schöpfer auch so gnädig und holt ihn sich zeitnah. Gespräch mit einer Mitarbeiterin des Patientenservice der Klinik. Wir sprechen nochmal über Fixierung, ich erfahre, dass dies nur sparsam eingesetzt wird und es für länger einen richterlichen Beschluss erfordert. Ich dränge nochmals auf Sedierung, um ihm dies zu ersparen, äußere meine Befürchtung, sie könnten ihn einfach irgendwann bei Mutter vor die Tür stellen – das sei ausgeschlossen, dafür seien sie ja involviert. Gott sei Dank. Bleibt abzuwarten, wann er von der Intensivstation verlegt wird und wohin. Wichtig ist der Besuch meiner Mutter dort morgen, vielleicht nimmt er sie wahr.

Selbst bin ich heute nicht in der Klinik. Den Tag heute widme ich der Hausarbeit und einem Spaziergang, später. Gott sei Danke habe ich noch ein paar Tage frei.

Samstag, 220709

Seit gestern Mittag liegt Vater auf Station. Selbst bin ich nicht bei ihm gewesen, habe Mutter dorthin gefahren. Knapp 2 Stunden Fahrt alles in allem und eine gute Stunde sitze ich vor der Station auf einem Absatz im Treppenhaus, wenigstens hat es ein paar Stühle dort für Begleitpersonen, die nicht mit rein dürfen. Es ist ok, dass sie allein bei ihm ist, über die Regelwerke hinaus. Sie soll ihn sehen, wie er ist, ohne weiter Ablenkung von außen.

Der bringt sich selbst um – das waren Mutters erste Worte, als sie wieder heraus kam. Sein Zustand ist wohl weitestgehend unverändert, hinzugekommen ist eine entzündete Hand samt Unterarm, ein Überbleibsel des vorletzten Klinikaufenthaltes. Katheder, diverse Ports, die er mit schöner Regelmäßigkeit versucht, zu entfernen. Fast taub und nicht bei Sinnen. Unruhig nennen sie das in der Klinik. Ich finde das zurückhaltend formuliert. Da ist Wut, die gleiche alte Scheißwut, die er immer hatte, wenn es nicht seinen Willen nachging. Sein Verhalten jetzt in dieser erbärmlichen Hilflosigkeit entspricht genau seinem Charakter, wie er eigentlich immer schon war. Er ist ein Mensch, der nie gelernt hat, loszulassen. Die Frau an seiner Seite ist geblieben, mittlerweile fast 70 Jahre. Ausnahmslos alles ging nach seinen Willen, und wo das mal nicht der Fall war, da wurde er ungerecht behandelt. Mindestens.

Es ginge so vieles auch zuhause, wenn Mensch Einsicht in seine Lage hätte und sich dem fügen könnte. Es gibt Krankenbetten und mobilen Pflegedienst, vielfache Hilfe. Aber nicht für einen Menschen, der in seiner Hilflosigkeit sich selbst gefährdet, immer noch kommandieren möchte und damit den letzten verbliebenden Menschen an seiner Seite zugrunde richtet. Und natürlich denke ich an mich, was einst sein wird. Zwar habe ich einen guten Teil des Charakters meines Vaters in mir, aber mein Leben ist voller Brüche und Abschiede. Vielleicht fällt mir der finale Abschied von mir selbst einst etwas leichter, ich hoffe das. Auch habe ich schon lange verinnerlicht, dass mein Ego nicht das Maß der Dinge ist. Einer der wenigen positiven Aspekte einer zum Stillstand gebrachten Suchterkrankung. An mir ist es jetzt, dafür zu sorgen, dass Vater gut versorgt wird, wo auch immer, unter welchen Umständen auch immer und gleich, was er davon hält. Nachhause geht es für ihn nicht mehr, so traurig wie das ist, Stand heute und sehr wahrscheinlich endgültig.

Für Montag habe ich mich angemeldet, ihn zu besuchen. Es findet sich.

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Und – zwischendurch gibt es so etwas wie Ferien.
Bilder dazu HIER beim Wassertiger

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Donnerstag, 220707

Vater – wieder im Krankenhaus

Vergangenen Freitag entließen sie ihn nachhause. Drei Nächte hat er mit schwerer Atemnot und Unruhe meine Mutter in Atem gehalten, am Dienstag gegen 11 dann bekam ich den Anruf meiner Mutter, der Hausarzt weigere sich, zu kommen, dafür gäbe es eine Einweisung, abzuholen bis 12 Uhr in der Praxis.

Es dauert eine Weile, bis ich aus der Stadt heraus bin und so wird es knapp. Dort angekommen, stehen geschätzt 10 Patienten, vorwiegend ältere Damen auf der Treppe zur Praxis im ersten Stock. Ich drängle mich vor und ernte die ersten bösen Kommentare. Zänkische alte Weiber sind mir gerade mehr als unpassend, ich werfe ihnen giftige Blicke zu, um dann die Praxis zu betreten. Folgt mir eine und keift was von hinten anstellen. Zur Antwort bölke ich sie an, sie möge schweigen, jetzt sei ich dran. Mir ist nicht nach sozialer Verträglichkeit und ich bekomme das Gewünschte, das griffbereit unterm Tresen liegt.

Bei meiner Mutter telefoniere ich mit den Johannitern, die einen RTW organisieren. Mit Vater kann ich kaum reden, er ist so gut wie taub und versteht auch nicht, wo es hin geht. Den einzigen Satz, den ich halb verstehe, ist, schlechter könne es ihm nicht gehen, dann sei er tot … Die Sanis kommen und ich zeigen ihnen die letzten beiden Entlassungsberichte, worauf eine kurze Unterhaltung über Unterbringung folgt. Sie sind gut ausgerüstet und holen einen Stuhl, auf dem sie Vater mitnehmen, samt Tasche und Mappe mit den letzten Papieren. Es folgt ein intensives Gespräch mit Mutter, es ist ihr nun bewusst, das Vater nicht mehr nach Hause kann.

Wieder zuhause ruhe ich mich erst mal aus, bevor ich einen Telefon-Marathon mit der Klinik starte. Ich erreiche egal weg niemanden, von der Zentrale mal abgesehen, nach endlosen Versuchen. Dort erfahre ich immerhin, dass Vater noch in der Notaufnahme sei. Anders als beim letzten Mal hat er alles dabei, was er braucht und zu ihm komme ich eh nicht, telefonisch ist dort niemand zu erreichen, kein Wunder, wer die Verhältnisse dort kennt, weiß warum. Ich grabe auf der Website der Klinik und finde ein Patientenservicecenter, früher nannte man das Sozialdienst. Namentlich genannt wird eine Dame samt Telefon, Mail- und Faxadresse. Natürlich geht keiner ans Telefon, ist auch schon später. Mails kommen wahrscheinlich Tausende und werden vermutlich kaum gelesen, zumal sie über ein eingebettetes Kontaktformular laufen. Wieder mal bin ich froh, mir vor einiger Zeit eine Fax-Möglichkeit eingerichtet zu haben und schreibe ihr auf diesem Wege eine sachliche Zusammenfassung des Status Quo der letzten knapp 3 Jahre und verweise auf die Mappe in seinem Koffer, verbunden mit der Bitte um ein persönliches Gespräch.

Heute früh erreiche ich die Dame über den Umweg einer Kollegin, die durch den Saal brüllt – komma, da is der Sohn vom Fax… Sie hat gelesen, ist sehr freundlich und kooperativ, ich erfahre, dass Vater auf der Intensivstation liegt und bekomme eine Durchwahl dorthin. Hier erfahre ich, dass man Vater sedieren musste, derweil er letzte Nacht die Station auf Trab gehalten habe. Ich kenne ihn, sage das, und vereinbare einen Besuchstermin für heute Nachmittag.

Zuvor war ich schon beim Testen, zu Fuß in der Stadt. Man steht Schlange, hinter mir, als ich dran bin. Die junge Frau mit dem Folterwerkzeug tobt sich in beiden Nasenlöchern aus, es kitzelt. Es kitzelt sehr und ich muss nießen, entferne mich ein paar Meter von der der Gesellschaft Richtung offenem Platz, um dann lautstark dem Juckreiz loszuwerden. Es braucht keine Hellsichtigkeit, um zu wissen, dass der wartende Rest sich nach mir umdreht. Ich schaue zurück und sehe gerade noch, wie ein kleiner rothaariger Junge sich ängstlich hinter seinen Vater versteckt. Freundlich winken und dumm grinsen hilft auch nicht viel, ich mache, dass ich fort komme.

So triviales mag nicht in den Kontext passen, aber gerade jetzt sind es eben solche Dinge, die mich in Form halten, obwohl mir nicht nach scherzen ist. Im Gegenteil.

Intensivstation. Klingeln und warten, zusammen mit noch zwei Kerlen. Der links von mir duzt mich, er redet viel und schätzt mich 15 Jahre jünger, wie sich herausstellt, was ihm peinlich ist und ihn fragen lässt, ob er weiter duzen dürfe. Ja sicher – es ist die Angst, die zerredet werden möchte – ich mag das nicht, dort, weil ich gefasst sein möchte, auf das, was ich zu sehen bekomme, ich zerschreibe die Angst lieber im Nachgang.

Nach einer Weile stehe ich an seinem Bett. Das übliche Equipment, Schläuche, Kabel, Maschinen, Katheder. Zweimal versuche ich ihm ins Ohr zu sprechen, er reagiert kaum, obwohl er mit abklingender Sedierung unruhig ist, seine Augen bleiben geschlossen. 20 Minuten stehe ich dort, während ich seine Hand halte und ihn anschaue. Diesen Mann, dem ich immerhin mein Leben verdanke und der sich nun anschickt, zu gehen. Es fehlen mir an dieser Stelle die Worte, zu beschreiben, was in mir geschieht. Wer je in ähnlicher Lage war, weiß das ohnehin. Was bleibt, ist Fassung bewahren und an Vaters Seite auf den behandelnden Arzt warten.

Der Arzt ist eine junge Ärztin, ich erfahre, dass sie die Papiere samt Verfügung in den Akten haben und erwähne unter Aufbietung des Restes meiner Selbstbeherrschung ein Gespräch mit meinem Vater, in dem wir über die Möglichkeit des Verhungerns gesprochen haben. Keine Sonde, sage ich, steht auch so in den Papieren. Sie bieten ihm manchmal etwas an, getrunken hat er wohl wenig, er bekommt Flüssigkeit durch die Adern. Die Ärztin spricht von möglicher Dehydrierung und einem plötzlichen Demenzschub, sowie davon, das niemand sagen könne, ob Vater da nochmal herauskomme. Man möge sich Gedanken über eine Unterbringung machen. Ja, sage ich, bin im Gespräch mit der Kollegin vom Servicecenter, die ich gerade noch angeschrieben habe, weil ich vergessen habe, der Ärztin zu sagen, sie mögen meinem Vater nach Möglichkeit die Fixierung ersparen und ihn lieber sedieren, auch wenn das seinem Allgemeinzustand nicht förderlich sei.

Morgen geht es weiter. Am Wochenende bringe ich meine Mutter zu ihrem Mann.


Es findet sich und SEIN Wille geschehe.

Donnerstag, 220630

Meine Reisetaschen stehen bereits im Wohnzimmer, aber noch ist nichts entschieden. Am Nachmittag bin ich wieder in der Klinik. Mutter sagte am Telefon, Vater dürfe morgen wieder heim, die Schwester auf Station meint dagegen, mal sehen, CT stünde noch aus. Kaum bin ich im Zimmer, wird er auf den Flur gerollt, zum Transport in die Radiologie, am anderen Ende der Klinik. Wir warten auf den Transporteur, wir kennen uns schon. Ein kräftiger Kerl, der in seiner Zweidrittel-Stelle am Tag ca. 12 Km macht, im Stechschritt. Es geht über den Aufzug in den Keller und quer durch das marode Geschoss, die Klinik steht kurz vor dem Umzug in einem Neubau andernorts. Warten vor der Radiologie, Vater schimpft über das ständige warten. Im Prinzip ein Zeichen allmählicher Erholung, die Menschen auf Station nehmens gelassen, sie sind einiges gewohnt.

Wieder auf Station frage ich den behandelnden Arzt, ob er schon etwas sagen könne, aber es dauert noch, die Bilder gehen erst zu den Radiologie-Ärzten und von dort auf Station. Morgen wisse man mehr, wir vereinbaren einen Telefon-Anruf. Wenn nichts gravierendes dagegen spräche, könne Vater morgen heim. Ich bleibe noch eine Weile, erfahre, dass er Hilfe beim waschen bekam, mal sehen, wie das daheim weiter geht. Schluckauf hat er wieder, beim letzten Mal haben sie ihn schon diesbezüglich untersucht, Magenspiegelung eingeschlossen, ohne Befund. Psychosomatisch, meinen sie. Ich sage, warte mal ab, bis du in ein paar Tagen daheim zur Ruhe kommst, das gibt sich. Benommen mache ich mich auf dem Heimweg.

Zuhause halten wir Rat. Die Liebste sagt, wir bleiben hier. Alles so unsicher, Ruhe würde ich keine finden und sie hätte auch keine Freude an mir, dann. Sie kennt mich, und so entscheiden wir uns, zu bleiben. Mutter ist erleichtert, obgleich sie es sehr schade findet. Aber es fühlt sich für mich richtig an, das allein zählt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in ein paar Tagen erneut fällt, ist nicht gering, hatten wir alles schon. Und wieder höre ich diese Worte: Ich tue meine Pflicht, sagt sie. Das sage ich auch oft, meine ich, und dass es schon etwas mehr wäre. Wir sprechen über vergangenes, das angesichts seines Zustandes mehr und mehr verblasst. Vergebung geht, vergessen niemals, darin sind wir uns einig.

*

Es fehlen ein paar Dinge und wir machen uns gemeinsam auf in die Stadt. Hunger stellt sich ein und wir beschließen, irgendwo einzukehren. Gar nicht so einfach, Laden 1 will uns einen Katzentisch anbieten, Danke nein. Laden 2 ist leer, an der Wand steht was von Flammkuchen, aber der Kellner meint, Koch krank und die tägliche Lieferung sei auch ausgeblieben. Schlussendlich kehren wir in eine uralte Studentenkneipe ein, die sich tatsächlich über die Jahrzehnte behaupten konnte. Ein freie Tisch wartet auf uns, weiter hinten, wir nehmen Platz. Es ist laut und voll, alles redet durcheinander und ich höre ein paar despektierliche Bemerkungen über den Umstand, dass ich offensichtlich der einzige Maskenträger hier bin. Ein dummes Lied fällt mir ein und eine komische Pflanze. Eine Weile sitzen wir da und warten auf das Essen, das alsbald kommt und so langsam entrollen sich die Blätter der komischen Pflanze wieder.

Das folgende wäre so nie geschehen, hätten wir uns entschieden zu fahren. In dem Fall hätten wir ein Restefest aus dem Kühlschrank gestartet und ansonsten Zeug zusammengesucht. Und auch der Katzentisch sowie der leidende Koch aus Laden 2 passen in das Bild, wir sollten genau dort sein, wo wir letztendlich landeten. Während wir noch auf den Espresso warten, steht urplötzlich eine junge Frau vor uns, begrüßt uns freudestrahlend, fragt, wie es uns geht. Die Liebste ist ratlos und selbst brauche ich einen kleinen Moment. Diese Augen. Es sind die Augen der Mutter meines Sohnes, der Halbschwester meines großen Kindes, zu der ich seit damals aus vielerlei Gründen keinen Kontakt mehr habe. Eine Passage in meinem (nassen) Leben, die ich nicht ungeschehen machen kann und für die ich mich immer noch schäme. All dies ist für einen Moment nicht existent, ich stehe auf und wir nehmen uns herzlich in die Arme. Sie ist mit einer Freundin dort, am Nachbartisch, ich hätte sie nicht erkannt, wäre sie nicht auf uns zugegangen. Wir wechseln ein paar freundliche Worte, bevor sie wieder Platz nimmt und ich spüre, wie mir die Augen feucht werden.

An der Stelle schließt sich in mir innerlich ein Kreis. Vergebung und vergessen. Sie wird niemals vergessen, aber diese Augen lassen auf Vergebung schließen. Ich bin tief bewegt – was für eine Zeit!

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Freitag, 210903

Mensch hat mal kluge Gedanken, siehe heute Morgen, mal weniger kluge, wie heute am Nachmittag. Mal sehen, ob sich geballter Unfug in Textform bringen lässt.

Kollegiale Verabschiedung

Es ist eine Art Sitte, für die einen eine schöne, für andere, mich selbst eingeschlossen, eher eine Unsitte, Kollegen, die das Haus verlassen, irgend etwas mitzugeben. Das reicht von schnöden Geldgeschenken (echt super für Menschen, die damit eh schon reich gesegnet sind) hin zu personalisierten Erinnerungsstücken, also irgend etwas Metallisches, an dessen Entwicklung und/oder Fertigung der oder die Betroffene in einer unnachahmlichen Weise beteiligt war. Zu dem Zweck wird das Objekt des Schaffens auf eine Art Sockel aus Bunt- oder Leichtmetall befestigt und via Gravur mit mehr oder weniger geistreichen Text versehen. Zu den herausragenden Geschmacklosigkeiten in dem Kontext gehört eine goldfarbene Lackierung des Objektes, soll das doch die Wertschöpfung signalisieren. Oder so. Am Ende entsteht so vergoldeter Kernschrott, der nach einer kurzen Weile des allgemeinen Bestaunens auf dem heimischen Schreibtisch mutmaßlich schnell den Weg in die Abstellkammer oder in den Keller findet.

Warum also ist dies für mich also eher eine Unsitte? Nun ja, die mehr oder weniger geistreichen Gravuren landen dann bei mir, zur gefälligen Abarbeitung. Was oft genug meinen „Flow“ stört, aber doch angegangen wird, man möchte niemanden zumuten, sich mit schnöden Schlagzahlen und -Buchstaben austoben zu müssen, mit optisch zweifelhaften Arbeitsergebnis. Zum anderen lässt die Ausgestaltung der Gravuren Spielraum für mehr oder weniger geistreiche Editionen, das Leben ist schließlich ernst genug.

Rückblick: Vor ein paar Tagen gab es ein „Vorgespräch“ mit dem Kollegen des Kollegen, also dem Zurückgelassenen, wenn man so möchte. Der mokierte sich über den unpersönlichen Kernschrott, könnte doch irgendwie mehr eine zwischenmenschliche Note bekommen. Natürlich fängt es bei mir dann an zu arbeiten, im Kopf. Das wurde heute mit meinem arabischen Kollegen besprochen, der die Vorarbeit geleistet hatte, der Abschieds-Metallklumpen wartete also nur noch auf eben eine Gravur. Tja, was könnte man da schreiben? In Liebe und in Dankbarkeit klingt ein wenig arg nach letztem Geleit, wurde also verworfen. Auch ein anderer hübscher Vorschlag fand am Ende keine Gnade, der Kollege meinte, die fehlende persönliche Note könne man durchaus noch hinzufügen, in Form seiner Vorhaut, die er neulich in irgend einer Schublade beim aufräumen gefunden zu haben glaubte. Ja toll, sage ich, wir haben noch Plexiglas, lass uns eine Monstranz mit deiner Pelle bauen, persönlicher geht es kaum. Was den Heiligen recht ist, kann uns nur billig sein. Ein Vorschlag kreativer Heiterkeit, der aber aus Pietätsgründen wieder verworfen wurde. Veganismus und so, man weiß ja nie.

Was bleibt, ist der übliche Schmuh mit Namensnennung und korrekter Datierung, versehen mit dem Minimal-Zusatz „In tiefer Dankbarkeit“. Und einer Grinsekatze, diskret, aber deutlich sichtbar mit eingebracht, zum Zeichen, dass ich ihm gedacht. Wem also in absehbarer Zeit mal ein Metallklotz mit Grinsekatz vor die Füße fällt, kennt nun schonmal die Legende dazu.

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