Still ruht der See, allgemein im Blogland des späten Samstags sowieso und hier im Speziellen auch. Ein leicht melancholischer, verdauungslastiger Couchundwolldeckenabhängenachmittag, nach einem fulminanten aushäusigen Essen mit Mutter. Originalzitat: Seniorenteller – so weit isses noch nicht. Recht so, Mutter, hau rein, egal ist 88, ab 90 kann man mal drüber nachdenken. Hauptsache, der Zucker bleibt im grünen Bereich. Faszinierend am Rande zu vermerken, wie sehr sie sich an ihrem Leben allein erfreut.
Zuhause. Sie hatte in ihrer Kindheit lange keines, das den Namen verdiente. Manchmal spricht sie davon, wie das damals war, mit 6 Personen in einem Zimmer. Man drehte ihr am Abend den einzigen Tisch um, paar Decken rein und fertig war ihr Nachtlager. Sie spricht manchmal vom Glück, jetzt so leben zu dürfen und dass sie nie gedacht hätte, im Alter mal so vergleichsweise gut dazustehen. Später Ausgleich für ein entbehrungsreiches Leben. So Gott will, hält das noch ein Weilchen an. Im nächsten Satz spricht sie über die Rückkehr der Kriegsfratze und wie schlimm das alles ist. Nicht für mich, sagt sie. Für euch …
Mal sinniere ich über unsere Familie nach. Irgendwie scheinen sich Schicksale wie Äußerlichkeiten jeweils über zwei Generationen zu gleichen. Mein Sohn hat die vollen Haare von seinem Großvater und ich die Beinaheglatze dito von dem Meinen. (Anmerkung: Eine kleine Glatze, eben Beinaheglatze, nennt man hier liebevoll Glätzken. Willkommen im Bergischen.) Meine Mutter wurde so alt wie ihre Großmutter, was sie selbst am wenigsten geahnt hat, bei allen Gebrechen in jungen Jahren. Ihre Mutter dagegen wurde nur 54 und starb jämmerlich in einem dunklen Loch an morphinbetäubten Tumordurchbrüchen. Alle Jahre wieder suche ich diese Gegend auf, das Haus steht noch. Hinterhof, zweite Reihe, nur durch einen Tunnel, die bergisch genannte Löv, erreichbar. Wurzelschau, ich war noch nicht in der Schule, als sie starb.
Mein Opa wurde 14 Jahre älter und hinterließ mir erschreckende astrologische Parallelen sowie besagte Haarpracht. Als Kind habe ich ihn geliebt, der so ganz anders lebte als alle anderen. Ein enger, bestens ausgestatteter Wohnwagen an einer Tanke bei Neuss, gleich um die Ecke sein Arbeitsplatz. Jedes Jahr Spanienurlaub, noch zu Francos Zeiten. Wenn er wiederkam, gab es Geschichten, Safran und Orangen. Später fuhr er einen Benz, hinten der Caravan und oben drauf ein Segelboot. Was er sonst noch (dem Vernehmen nach) gewesen sein soll, erfuhr ich erst viel später. Das dritte Reich und seine Kinder, die schon keine mehr waren. Tätergeneration, wie man heute sagt.
Von meines Vaters Familie weiß ich nur wenig. Das Umfeld bildungsfern, wie man es heute charmant nennt. Damals gab es andere Ausdrücke, die menschenverachtend brutal, aber nicht so verlogen klangen. Brutal auch der Umgang mit ihnen, die nicht so geraten waren wie das hochstilisierte Rassenideal. Da wurde geschnippelt, auf dass sich „sowas“ nicht mehr fortpflanze und weil es bei dieser Klientel eh nicht so genau kam, auch mal daneben, mit drastischen Folgen und frühem Tod im Krüppelheim, wie es damals hieß. Meine Mutter erzählte mir von den wenigen Besuchen bei meiner Großmutter väterlicherseits dort. Von Großraumschlafsälen und kaum vorhandener Betreuung. Die Bilder sind in meinem Kopf, man kennt sie aus alten Filmen, wenn dann. Ich mag sie nicht aufschreiben.
Ein Onkel des Vaters kümmerte sich nach Kräften um meinen Vater, der mit 14 allein da stand. Fernfahrer, ein Zwei-Meter-Schrank, der ab und an nach dem Rechten sah und was zu essen mitbrachte. Der im Spätsommer 44 nicht mehr nach Russland zurückging und sich mit geladener Waffe viele Monate erfolgreich bei seinen Liebschaften im Tal der Wupper versteckte. Er ist wie alle anderen seines Jahrgangs zum Militär gepresst worden, soff, um zu ertragen, was von ihm im Osten verlangt wurde zu tun. Bis er es nicht mehr konnte und sich auch im Vollrausch noch wahrnehmen musste. Ein Mensch, vor dem ich im Nachgang größten Respekt habe. Er starb früh, einst fuhren wir ihn besuchen, auch zusammengefallen ließ er Größe erahnen.
Alles in allem eine millionenfache Familiengeschichte, die sich kaum von anderen Schicksalen unterscheidet, außer vielleicht durch die gewaltigen Brüche, die mitten durch die Sippen gingen. Und selbst die sollen so selten nicht gewesen sein. Wenn ich versuche, den Bogen in die Gegenwart zu schlagen, verliere ich die Lust am schreiben. Werde still und dankbar für die Altbaubude hier, für das Dach über dem Kopf und die vielen erlebten Wandel in meinem Leben. Selbst wenn diese merkwürdigen Gesetzmäßigkeiten über zwei Generationen sich bei mir fortsetzen sollten, hat es sich doch bislang schon gelohnt, zu leben. Melancholische Lebensfreude mit einer ausgewachsenen Portion Neugier treiben mich voran, auf dass da noch was kommen möge.
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