Passt irgendwie in diese besinnliche Adventszeit.
Die weiße Wand
Für B., für alle anderen, die damit etwas anfangen können, und für mich zur Erinnerung.
Zweimal in meinem Leben stand ich vor den Trümmern meiner bisherigen Glaubenssätze, meines bisherigen Verhaltens. Nicht mehr weiter zu wissen, nicht mehr vor und zurück zu können, das waren die Merkmale dieser Lebenslagen. Kapitulation, wie man sagt – ich habe aufgehört, zu kämpfen.
Das erste Mal war vergleichsweise überschaubar, es ging um nichts weniger als um weiter leben oder langsam zu sterben. Natürlich ist das Leben an sich ein langsames Sterben, es kommt halt ganz auf die Qualität dessen an. Dazu kam, dass sich mein mögliches Ende durch mein Verhalten enorm beschleunigt hatte – Alkohol- und Drogen-induzierter geistiger, emotionaler und auch körperlicher Verfall ließen irgendwann eine Entscheidung unerlässlich werden. Ich durfte mich für das Leben entscheiden, ohne einen Plan, ohne die geringste Vorstellung davon, wie ich dies trocken, abstinent und klar im Kopf, zumindest im Sinne von chemischer Unklarheit bewerkstelligen sollte.
Dies war wirklich vergleichbar mit einem Raum, aus dem ich sämtlichen alten Krempel auf die Straße schmiss, anschließend neu strich, um dann rat- und planlos vor der weißen Wand zu sitzen. Du musst jetzt raus, irgend etwas unternehmen. Versuch und Irrtum ist die einzige Wahl, wenn man keinen Plan hat. Was folgte, war eine Art Auslese. Dies möchte ich nicht, das ist nichts für mich, aber hier fühlt sich etwas gut und richtig an, also geht es da weiter. Gewähr? Gibt es keine, dafür ein unbestimmtes Gefühl von Vertrauen und Schutz, von Beistand. Bild- und namenlos, vielleicht eine Kraft, die mir immer schon beistand, ohne dass ich ihr gewahr wurde. Jedenfalls erwies sich dieses ungewohnte Gefühl als überraschend tragfähig.
Das zweite Mal war scheinbar komplizierter, auf jeden Fall vielschichtiger. Es ging um nichts weniger als meine erlernten Beziehungsmuster. Zunächst zum anderen Geschlecht und – 10 Jahre zeitversetzt – auch zum eigenen Geschlecht (was eine Geschichte für sich ist).
Ich hatte irgendwann wirklich alle Varianten des mir Vertrauten durchlebt. Ihnen gemeinsam war das Grundgefühl, nicht zu genügen, stets im Mittelpunkt von Wertung und Urteil zu stehen. Ablehnung, wechselseitige Erhöhung und Erniedrigung, Machtspiele in allen Farben. Und – bei alledem Beistand um jeden Preis, gleich wie gruselig es sich auch anfühlen mag. Damit meine ich nicht jene Treue und Beständigkeit, die beide den Boden für jede Beziehung bilden, sondern die eher degenerative Variante dessen, Vasallentreue vielleicht. Was lässt in solchen Lagen verweilen, was lässt Menschen aneinander „kleben“, die sich alles andere als gut tun? Im Grunde ist es nur die Angst vor etwas vollkommen Neuen, gerne in Kombination mit der Angst vor dem allein sein. Die Angst vor der weißen Wand, gepaart mit dem Unvermögen, sich vorstellen zu können, wie es sich anders anfühlen mag. Das Alte ist zwar leidvoll, aber wenigstens vertraut. Scheiße hält halt warm, wie schon kleine Kinder wissen.
Bis auch hier irgendwann der Leidensdruck zu groß wurde. Bis die Vorstellung von einem so genannten Single-Dasein keinen Schrecken mehr verbreitete, sondern im Gegenteil eine erlösende Variante zu sein schien. Bis ich für mich ganz klar hatte – so wie gehabt nie wieder, dann lieber allein. So wirklich allein fühlte ich mich zu dieser Zeit schon lange nicht mehr, unabhängig von meinem jeweiligen Beziehungspartnern. Dieses innere „verlorene Kind“ schien irgendwie Halt gefunden zu haben. Ich kann das bis heute nur schlecht beschreiben. Die Worte Hoffnung und Zuversicht auf und für etwas völlig Unbekanntes beschreiben es am nächsten.
In der Folge durfte ich mich von allen mir vertrauten und bekannten Vorstellungen einer „Partnerschaft“ – ein Wort, das heute für mich eher zur Geschäftswelt passt – zu verabschieden. Wobei „Partnerschaft“ in Beziehungen, auch in meinen vergangenen, durchaus etwas von Handel hat, hatte. Die weiße Wand, die totale Leere, in der nichts unmöglich scheint, war auch hier die Grundvoraussetzung für wirkliche Veränderung.
*
Nachtrag: Das Gleichnis der weißen Wand scheint ein guter Weg, der eigenen Endlichkeit besser ins Auge sehen zu können.
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