231129-Drabbles: Geschichten in 100 Worten

Wortman aka Torsten richtet aus und spendet Worte, heute:
Kanister – lösen – Quote

Glücksritter on Tour

Kurz hinter der Mülheimer Brücke stehen wir im Stau. Verdammte Shopping-Touris, die mit uns Rennbahn-Besuchern um die Parkplätze konkurrieren. Alter, mach hin, schreit Alex, es geht um was! Liebesspieler muss heute gewinnen, bei der Mega-Quote, wir dürfen nix verpassen. Im Grunde haben wir so wenig Plan von Pferden wie einst Bukowski – sehen gut aus und scheißen das Stroh voll. Egal, dem Glücklichen winkt Gold und Glanz, oder, wie in unserem Fall, Erlösung von Moskau-Inkasso mit seinen humorlosen Kanisterköppen. Die lösen Liquiditätsprobleme altbacken, bis hin zum auflösen in Säure. Geht weiter, toll, die Automatik-Karre fährt sich auch mit 8 Fingern gut.

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Montag, 231127

Befinden

Aus den betonierten Bronchien ist ein reißender Rotzstrom geworden, in Kombi mit einem fiesen Husten. Man kennt das, nix besonderes dieser Tage. Ein infektiöses, verseuchte Zelluloseberge produzierendes Monster, einzig die Katze schreckt das nicht, die freut sich über unerwartete Tagesgesellschaft und schmiegt sich Pelz an Pelz.

Doktor

So eine Derangiertheit kuriert man gewöhnlich im Bett aus. Viel trinken, Hühnersuppe oder dergleichen, Ruhe und die Welt draußen lassen. Außer man ist noch werktätig, dann braucht es dazu eine Legitimation, sprich Krankmeldung. Für mich gab es bis heute Morgen nach dem krank-sein nur eine Steigerung, den Arztbesuch. Stundenlange Wartezeiten in kontaminierten Wartezimmern, und wer bis dahin noch nicht genug hatte, kriegt hier den Rest.

Anders mein neuer Hausarzt, der aus der alten Praxis ein so genanntes medizinisches Versorgungszentrum gemacht hat. Auf der Website gibt es die Möglichkeit eine Online-Terminreservierung – hier buchen, steht da. Eine wie immer datenschutzfragwürdige App, ich registriere mich dennoch, weil – die Hoffnung auf digitalen Fortschritt stirbt zuletzt. Um 7.45 stehe ich in dem zugigen Hauspassage vor der Praxis, eine Dame vor mir und in den folgenden 10 Minuten fallen 10 weitere Versehrte ein. Hast alles richtig gemacht, denke ich, buchen hier und eichen da, Hauptsache Erster. Oder Zweiter, wie jetzt, geht auch. Nach und nach treffen die Angestellten ein und um Punkt Acht wird Einlass gewährt. Die mit Termin zuerst, heißt es, und ich staune. Laut Online-Reservierungsplan bin ich der Erste, obgleich eher der Zweite und komme tatsächlich sofort dran. Die nehmen das ja ernst und spielen richtig mit – ich bin begeistert. Um 8.20 bin ich wieder heraus, während im Wartezimmer der Punk abgeht. Hat sich offensichtlich noch nicht so richtig herumgesprochen.

Seit zwei Monaten läuft das, höre ich auf Nachfrage. Und dass man bei der Reservierung wählen müsse, es gibt 5-Minuten-Termine und 15-Minuten-Termine. Akut und Besprechung, aha. Kommerz lässt grüßen, aber immerhin Fortschritt. Und so schaffe ich es auch noch locker zur Radiologie, die letzte Innenschau meiner Lunge ist schon sehr lange her. Der Arzt hört mich ab, alles frei, aber man weiß ja nie. Gehn se mal. Ja, Chef – Hauptsache zeitnah wieder unter der Aua-Decke.

Termine, Terrine, Süppchen

Der Kühlschrank ist voll, darben muss ich nicht, weil eigentlich ein aushäusiges kleines Fest geplant war, das leider ausfallen musste. Unter anderen steht dort ein großer Topf mit Gemüsesuppe, von dem ich mir eine gute Portion abzwacke und in einem kleinen Topf erhitze. Zudem kloppe ich noch zwei der Genesung förderliche, verrührte Eier hinein, zusammen mit flüssigkeitstreibenden Cayennepfeffer rühre ich das solcherart aufgepimpte Mahl an. Still ist es, nur der Holzlöffel ist leise am Topfboden zu hören. Mein Vater fällt mir ein, die letzten Worte mit meiner Mutter waren streitlustig. Ihr kocht alle euer eigenes Süppchen, soll er gesagt haben. So wie ich jetzt gerade, denkt es in mir. Zornige Verzweiflung eines Sterbenden, ich bitte darum, so nicht abtreten zu müssen. Man wird sehen.

Erst mal auskurieren.

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Sonntag, 231126

Horizontale Tage, nicht so wie einst hormonell hochgelobt, heute mit zementierten Bronchien, frieren, schwitzen, die ganze Palette. Bedenklich, die weiche Rübe, Viertelstunde Aufmerksamkeit geht und dann gähnt es da oben herzhaft. Das Internet ist schon leer geguckt (ja, ich war das, nicht böse sein), die allgemeine Flachheit passt gut zur derzeitigen Auffassungsgabe.

@ weiche Rübe, sie lässt mich an meinen Vater denken, der diese Welt schwerst dement verlassen hat. Hier, fühl mal … überhaupt denke ich viel an meine Ahnen dieser Tage. Ich bin nicht in ihren Schuhen gelaufen, je mehr sich das bei mir breit macht, um so mehr komme ich vom ewigen Werten und Urteilen weg. Es bewegt sich etwas hin zum Guten, scheint es.

Netzfund, ich mag die Vögel.

Mittwoch, 231122

„Luftballon“ war das Wort des Tages bei der großen alten Dame der Wörtertürme. Hübsche Dinger, die nicht nur Kinder mögen – metaphorisch finde ich die Szenerie, wenn solch ein Teil aufgeblasen, nicht verknotet, sondern der Belustigung wegen fliegen gelassen wird. Pfpfpf… Manche Zeitgenossen sind auch so – aufgeblasen und wenn sie fliegen sollen, fetzen sie unkontrolliert und ohne Sinn durch die Gegend und machen komische Geräusche. Einer geht – Hauptsache, es sind keine 99 an der Zahl 🙂 Danke, liebe Wildgans, für die gedankliche Anregung!

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Die hier ist über jeden Zweifel erhaben und Metaphern gehen ihr am Arsch lang, wo ja auch immer ein Weg ist. Wörtertürme beeindrucken sie ebenso wenig, außer, wenn ich telefoniere, dann schleicht sie laut maunzend um mich herum – du sollst mit mir reden, ich bin nicht nur die Schönste, sondern auch die Einzige… Man kenn das 😉

Drabbles: Geschichten in 100 Worten – 231121

Derzeitiger Ausrichter ist Torsten aka Wortman
Diese Woche mit: Öl – traurig – paranoid

Alles Bio oder was?

Im Wageninneren riecht es zart nach dem Massageöl, es ist immer wieder ein Erlebnis, denke ich. Durchgeknetet und tiefenentspannt kann ich für eine Weile meine paranoide Grundhaltung vergessen, The Day Is My Enemy hat mal kurze Pause, hauen, stechen, schlagen geht morgen dann weiter, der Krieger darf entspannen. Ist im Grunde mehr als traurig, aber immerhin war es letztens nur eine Bewährungsstrafe, auch der Aufenthalt in der Psychiatrie war nur kurz. Leckere Sachen gab es dort, sehr beruhigend, nur mein Steifftier war mit der chemischen Ermüdung alles andere als einverstanden. Tja, Massage hilft auch, vor allem ohne die gruseligen Nebenwirkungen.

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Nein, liebe Leserinnen und Leser, ist nicht autobiograhpisch.
Jedenfalls nicht alles 😁​

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Sonntag, 231119

Osnabrück

Ein Abenteuer – ich fahre mit Regiobahnen und dergleichen vom Tal der Wupper nach Osnabrück und am selben Tag wieder heim. Der Sinn ist, aus virtuellen Bekannten Fleisch-und-Blut-gewordene Menschen werden zu lassen, was aus Zeitgründen leider nicht oft geht.

Hin geht fein, alles fährt pünktlich, ich bin fast 2 Stunden zu früh planmäßig am Ort. Eine kalte Novembersonne wärmt zwar nicht, sorgt aber für zauberhafte Lichtspiele. Mein Tagesplan richtet sich nach der Wettervorhersage.

Das Treffen war aufregend und erkenntnisreich, wir brunchen in einem hübschen Innenstadt-Cafe, unterhalten uns angeregt und vergessen ein wenig die Zeit. Unterschiedliche Lebensläufe, Männer und Frauen, meist jünger als ich (was mittlerweile häufiger vorkommt) aber eine uns verbindende gemeinsame Grunderkrankung. Zwar bin ich ein Mensch ohne Plan, aber mit viel Neugier, die mich immer wieder staunen lässt. Gleiche Schicksale treffen mit teilweise verschiedenen Sichtweisen aufeinander. Mal rede ich von mir, meist höre ich zu. Fazit: Gerne wieder, mit nehme ich die Bestätigung dessen – es führen viele Wege zum Ziel, mein Weg ist nur einer.

Die Rückfahrt gestaltet sich nass und holprig, Verspätungen und Zugausfälle summieren sich, die DB macht ihrem verkommenen Ruf alle Ehre, im Kontrast zur Anreise. Es stinkt nach schlechten Atem und nassen Menschen, aber ich fahre, immerhin. Mehrmaliges Umdisponieren per Apps hilft weiter, ebenso der Gedanke an mein Reisemaskottchen, eine extra originalverpackte Zahnbürste als Zeichen der Vorsorge, kombiniert mit Vertrauen in meine höhere Macht.

Vertrauen braucht auch mein Immunsystem, wenn ich nach diesem Tag gesund bleibe, hat es noch Hoffnung 🙂

Drabbles: Geschichten in 100 Worten

Derzeitiger Ausrichter ist Torsten aka Wortman
Diese Woche mit: chaotisch – Jalousie – quer

Poltergeist

RATSCH – laut scheppernd verabschiedet sich die Jalousie von der Wand. Polternd bedenkt er die Schrauben- und Dübelhersteller, die Erbauer der Wand und den Herrn persönlich mit wilden Flüchen. Der ungern das Haus verlassende Bollerkopp, er hat irgendwie ausgeblendet, dass er es war, der dieses Ding installiert hat. Als Meister der Projektion schreibt er anrührige Geschichten, daheim und auch sonst so ist er eher chaotisch. Bist wie Kamelscheiße, sagt der arabische Kollege. Die kommt auch immer quer – ein Gleichnis zum Verlieben. Überhaupt die Liebe – er staunt immer wieder auf `s Neue – der engste Kreis scheint ihn wundersamer Weise schon zu mögen.

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Samstag, 231111

Still ruht der See, allgemein im Blogland des späten Samstags sowieso und hier im Speziellen auch. Ein leicht melancholischer, verdauungslastiger Couchundwolldeckenabhängenachmittag, nach einem fulminanten aushäusigen Essen mit Mutter. Originalzitat: Seniorenteller – so weit isses noch nicht. Recht so, Mutter, hau rein, egal ist 88, ab 90 kann man mal drüber nachdenken. Hauptsache, der Zucker bleibt im grünen Bereich. Faszinierend am Rande zu vermerken, wie sehr sie sich an ihrem Leben allein erfreut.

Zuhause. Sie hatte in ihrer Kindheit lange keines, das den Namen verdiente. Manchmal spricht sie davon, wie das damals war, mit 6 Personen in einem Zimmer. Man drehte ihr am Abend den einzigen Tisch um, paar Decken rein und fertig war ihr Nachtlager. Sie spricht manchmal vom Glück, jetzt so leben zu dürfen und dass sie nie gedacht hätte, im Alter mal so vergleichsweise gut dazustehen. Später Ausgleich für ein entbehrungsreiches Leben. So Gott will, hält das noch ein Weilchen an. Im nächsten Satz spricht sie über die Rückkehr der Kriegsfratze und wie schlimm das alles ist. Nicht für mich, sagt sie. Für euch …

Mal sinniere ich über unsere Familie nach. Irgendwie scheinen sich Schicksale wie Äußerlichkeiten jeweils über zwei Generationen zu gleichen. Mein Sohn hat die vollen Haare von seinem Großvater und ich die Beinaheglatze dito von dem Meinen. (Anmerkung: Eine kleine Glatze, eben Beinaheglatze, nennt man hier liebevoll Glätzken. Willkommen im Bergischen.) Meine Mutter wurde so alt wie ihre Großmutter, was sie selbst am wenigsten geahnt hat, bei allen Gebrechen in jungen Jahren. Ihre Mutter dagegen wurde nur 54 und starb jämmerlich in einem dunklen Loch an morphinbetäubten Tumordurchbrüchen. Alle Jahre wieder suche ich diese Gegend auf, das Haus steht noch. Hinterhof, zweite Reihe, nur durch einen Tunnel, die bergisch genannte Löv, erreichbar. Wurzelschau, ich war noch nicht in der Schule, als sie starb.

Mein Opa wurde 14 Jahre älter und hinterließ mir erschreckende astrologische Parallelen sowie besagte Haarpracht. Als Kind habe ich ihn geliebt, der so ganz anders lebte als alle anderen. Ein enger, bestens ausgestatteter Wohnwagen an einer Tanke bei Neuss, gleich um die Ecke sein Arbeitsplatz. Jedes Jahr Spanienurlaub, noch zu Francos Zeiten. Wenn er wiederkam, gab es Geschichten, Safran und Orangen. Später fuhr er einen Benz, hinten der Caravan und oben drauf ein Segelboot. Was er sonst noch (dem Vernehmen nach) gewesen sein soll, erfuhr ich erst viel später. Das dritte Reich und seine Kinder, die schon keine mehr waren. Tätergeneration, wie man heute sagt.

Von meines Vaters Familie weiß ich nur wenig. Das Umfeld bildungsfern, wie man es heute charmant nennt. Damals gab es andere Ausdrücke, die menschenverachtend brutal, aber nicht so verlogen klangen. Brutal auch der Umgang mit ihnen, die nicht so geraten waren wie das hochstilisierte Rassenideal. Da wurde geschnippelt, auf dass sich „sowas“ nicht mehr fortpflanze und weil es bei dieser Klientel eh nicht so genau kam, auch mal daneben, mit drastischen Folgen und frühem Tod im Krüppelheim, wie es damals hieß. Meine Mutter erzählte mir von den wenigen Besuchen bei meiner Großmutter väterlicherseits dort. Von Großraumschlafsälen und kaum vorhandener Betreuung. Die Bilder sind in meinem Kopf, man kennt sie aus alten Filmen, wenn dann. Ich mag sie nicht aufschreiben.

Ein Onkel des Vaters kümmerte sich nach Kräften um meinen Vater, der mit 14 allein da stand. Fernfahrer, ein Zwei-Meter-Schrank, der ab und an nach dem Rechten sah und was zu essen mitbrachte. Der im Spätsommer 44 nicht mehr nach Russland zurückging und sich mit geladener Waffe viele Monate erfolgreich bei seinen Liebschaften im Tal der Wupper versteckte. Er ist wie alle anderen seines Jahrgangs zum Militär gepresst worden, soff, um zu ertragen, was von ihm im Osten verlangt wurde zu tun. Bis er es nicht mehr konnte und sich auch im Vollrausch noch wahrnehmen musste. Ein Mensch, vor dem ich im Nachgang größten Respekt habe. Er starb früh, einst fuhren wir ihn besuchen, auch zusammengefallen ließ er Größe erahnen.

Alles in allem eine millionenfache Familiengeschichte, die sich kaum von anderen Schicksalen unterscheidet, außer vielleicht durch die gewaltigen Brüche, die mitten durch die Sippen gingen. Und selbst die sollen so selten nicht gewesen sein. Wenn ich versuche, den Bogen in die Gegenwart zu schlagen, verliere ich die Lust am schreiben. Werde still und dankbar für die Altbaubude hier, für das Dach über dem Kopf und die vielen erlebten Wandel in meinem Leben. Selbst wenn diese merkwürdigen Gesetzmäßigkeiten über zwei Generationen sich bei mir fortsetzen sollten, hat es sich doch bislang schon gelohnt, zu leben. Melancholische Lebensfreude mit einer ausgewachsenen Portion Neugier treiben mich voran, auf dass da noch was kommen möge.

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