Samstag, 231111

Still ruht der See, allgemein im Blogland des späten Samstags sowieso und hier im Speziellen auch. Ein leicht melancholischer, verdauungslastiger Couchundwolldeckenabhängenachmittag, nach einem fulminanten aushäusigen Essen mit Mutter. Originalzitat: Seniorenteller – so weit isses noch nicht. Recht so, Mutter, hau rein, egal ist 88, ab 90 kann man mal drüber nachdenken. Hauptsache, der Zucker bleibt im grünen Bereich. Faszinierend am Rande zu vermerken, wie sehr sie sich an ihrem Leben allein erfreut.

Zuhause. Sie hatte in ihrer Kindheit lange keines, das den Namen verdiente. Manchmal spricht sie davon, wie das damals war, mit 6 Personen in einem Zimmer. Man drehte ihr am Abend den einzigen Tisch um, paar Decken rein und fertig war ihr Nachtlager. Sie spricht manchmal vom Glück, jetzt so leben zu dürfen und dass sie nie gedacht hätte, im Alter mal so vergleichsweise gut dazustehen. Später Ausgleich für ein entbehrungsreiches Leben. So Gott will, hält das noch ein Weilchen an. Im nächsten Satz spricht sie über die Rückkehr der Kriegsfratze und wie schlimm das alles ist. Nicht für mich, sagt sie. Für euch …

Mal sinniere ich über unsere Familie nach. Irgendwie scheinen sich Schicksale wie Äußerlichkeiten jeweils über zwei Generationen zu gleichen. Mein Sohn hat die vollen Haare von seinem Großvater und ich die Beinaheglatze dito von dem Meinen. (Anmerkung: Eine kleine Glatze, eben Beinaheglatze, nennt man hier liebevoll Glätzken. Willkommen im Bergischen.) Meine Mutter wurde so alt wie ihre Großmutter, was sie selbst am wenigsten geahnt hat, bei allen Gebrechen in jungen Jahren. Ihre Mutter dagegen wurde nur 54 und starb jämmerlich in einem dunklen Loch an morphinbetäubten Tumordurchbrüchen. Alle Jahre wieder suche ich diese Gegend auf, das Haus steht noch. Hinterhof, zweite Reihe, nur durch einen Tunnel, die bergisch genannte Löv, erreichbar. Wurzelschau, ich war noch nicht in der Schule, als sie starb.

Mein Opa wurde 14 Jahre älter und hinterließ mir erschreckende astrologische Parallelen sowie besagte Haarpracht. Als Kind habe ich ihn geliebt, der so ganz anders lebte als alle anderen. Ein enger, bestens ausgestatteter Wohnwagen an einer Tanke bei Neuss, gleich um die Ecke sein Arbeitsplatz. Jedes Jahr Spanienurlaub, noch zu Francos Zeiten. Wenn er wiederkam, gab es Geschichten, Safran und Orangen. Später fuhr er einen Benz, hinten der Caravan und oben drauf ein Segelboot. Was er sonst noch (dem Vernehmen nach) gewesen sein soll, erfuhr ich erst viel später. Das dritte Reich und seine Kinder, die schon keine mehr waren. Tätergeneration, wie man heute sagt.

Von meines Vaters Familie weiß ich nur wenig. Das Umfeld bildungsfern, wie man es heute charmant nennt. Damals gab es andere Ausdrücke, die menschenverachtend brutal, aber nicht so verlogen klangen. Brutal auch der Umgang mit ihnen, die nicht so geraten waren wie das hochstilisierte Rassenideal. Da wurde geschnippelt, auf dass sich „sowas“ nicht mehr fortpflanze und weil es bei dieser Klientel eh nicht so genau kam, auch mal daneben, mit drastischen Folgen und frühem Tod im Krüppelheim, wie es damals hieß. Meine Mutter erzählte mir von den wenigen Besuchen bei meiner Großmutter väterlicherseits dort. Von Großraumschlafsälen und kaum vorhandener Betreuung. Die Bilder sind in meinem Kopf, man kennt sie aus alten Filmen, wenn dann. Ich mag sie nicht aufschreiben.

Ein Onkel des Vaters kümmerte sich nach Kräften um meinen Vater, der mit 14 allein da stand. Fernfahrer, ein Zwei-Meter-Schrank, der ab und an nach dem Rechten sah und was zu essen mitbrachte. Der im Spätsommer 44 nicht mehr nach Russland zurückging und sich mit geladener Waffe viele Monate erfolgreich bei seinen Liebschaften im Tal der Wupper versteckte. Er ist wie alle anderen seines Jahrgangs zum Militär gepresst worden, soff, um zu ertragen, was von ihm im Osten verlangt wurde zu tun. Bis er es nicht mehr konnte und sich auch im Vollrausch noch wahrnehmen musste. Ein Mensch, vor dem ich im Nachgang größten Respekt habe. Er starb früh, einst fuhren wir ihn besuchen, auch zusammengefallen ließ er Größe erahnen.

Alles in allem eine millionenfache Familiengeschichte, die sich kaum von anderen Schicksalen unterscheidet, außer vielleicht durch die gewaltigen Brüche, die mitten durch die Sippen gingen. Und selbst die sollen so selten nicht gewesen sein. Wenn ich versuche, den Bogen in die Gegenwart zu schlagen, verliere ich die Lust am schreiben. Werde still und dankbar für die Altbaubude hier, für das Dach über dem Kopf und die vielen erlebten Wandel in meinem Leben. Selbst wenn diese merkwürdigen Gesetzmäßigkeiten über zwei Generationen sich bei mir fortsetzen sollten, hat es sich doch bislang schon gelohnt, zu leben. Melancholische Lebensfreude mit einer ausgewachsenen Portion Neugier treiben mich voran, auf dass da noch was kommen möge.

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Donnerstag, 230105

Aus aktuellem Anlass, im Interesse aller beseelten Geschöpfe mit Nerven sowie im Interesse der inneren Sicherheit: Petition für ein Böllerverbot – bitte unterzeichnen und nach Kräften teilen.

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Meiner Vorliebe für dunkle Ecken sei Dank finde ich immer kleine bildhafte Mitbringsel. So wie der hier – ein Geist oder eher ein Engel, der mutmaßlich im Stromkasten wohnt. Da macht er sich gut und hat auch irgend etwas Zeitgemäßes an sich.

Oder der Briefkasten hier, kein Name, aber so eine Art 3D-Avatar, finde ich gut gelungen, so der Adressat sich damit identifizieren kann und das vielleicht sogar optisch unterstreicht.

Früher war ich mal stolz darauf, über Grenzen denken zu können, tatsächlich oder vermeintlich. Heute sehe ich vieles differenzierter, es reicht meist völlig, innerhalb der „Grenzen“ zu denken, meist ist dort mehr zu finden als vermutet. Außerdem sind (persönliche) Grenzen keine statische Angelegenheit, sie verändern sich mit den Jahren durchaus. Und – wenn ich mir heute die Menschen anschaue, die von sich behaupten, „jenseits der Grenzen“ denken zu können, dann wünsche ich ihnen, doch erst einmal das Land innerhalb der Grenzen (der Naturgesetze, der menschlichen Psyche) kennenzulernen.

Auch das hier ist zeitgemäß – heute gibt mal nichts.

Da geht man zielgerichtet seines Weges und steht plötzlich vor einer geballten Ladung deutscher Geschichte, das kommt gefühlt nirgends krasser und häufiger vor als in Berlin. Die Reste des ehemaligen „Volksgerichtshofes“ – die Farce einer Justiz, die denen blüht, die heute lautstark gegen die Demokratie protestieren.

Und zum Schluss:
Berlin bietet so vieles mehr ❤️ 
# dunkle Ecken

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Montag, 220530

Schon wieder ein 30ster Mai. Was hat dieser Tag mit meinem letzten Eintrag zu tun? Möglicher Weise viel, hätte der 30 Mai 1943 so nicht stattgefunden, wäre meinen Eltern zumindest ein großer Teil ihrer Traumata erspart geblieben. Hätte, wäre, sollte – vergiss es. Es war so. Und hoffentlich wiederholt es sich nicht mehr. Selbst bemerke ich die gravierenden Unterschiede in meiner Wahrnehmung, wenn ich vergleiche, der 80er und heute. Damals tanzten wir mit vollem Arsch auf Gräbern – die Bedrohung wie die gruseligen Erzählungen oder besser Stimmungen, erzählt wurde nicht so viel – war Alltag, Deutschland Frontstaat, potentiell. Na und?

Heute ist anders. Trocken, Nüchtern, abstinent lebend und dazu knapp 40 Jahre älter ist der kalte Schauer präsent, weil der Geist die Bilder der Gegenwart mit den gefühlten Erinnerungen von damals abgleicht. Wenn die Angst auf ihren Platz verbannt ist, also irgendwo weiter hinten, da darf sie bleiben, und nur dort, weil Chef ist sie nicht, wenn also die Angst auf den rechten Platz verwiesen wurde, dann bleibt das Gefühl, dass alles so sein muss, wie es ist und wie es wird, komme, was da wolle.

Sonst so? Fatalismus geht auch nüchtern, hilft zwar nicht viel, sorgt aber für Ablenkung – und wenn es nur dieses alte Scheißlied ist (Das Original durfte ich mir als Kind oft genug anhören…)

Freitag, 220218

Fast Wochenende, die letzten Stunden mit Vorfreude auf das nachmittägliche Sofa, die milchtrittige, Füße massierende Jung-Katze inbegriffen. Apropo Katze – wir unterhalten uns, der arabische Lieblingskollege und ich. Die Menschen in seinem Dorf, irgendwo im Westjordanland, leben unter Willkür- und Gewaltherrschaft – darf man hierzulande historisch bedingt nicht laut sagen, darum tiefer gestellt. Hätte ich auch nicht erwähnt, aber dieser Fakt ist unerlässlich, um den folgenden Kontext zu verstehen. Ok, zurück zum Thema – es treibt seltsame Blüten, wie mir berichtet wurde. So hat ein Nachbar einen Kater, der kommt zum Futter und macht ansonsten, was er will, wie seinesgleichen eben so sind. Einen Namen hat er auch, der Nachbar ruft ihn am Morgen laut, während die Machthaber in gepanzerten Fahrzeugen vorbei fahren:

Hitler, Frühstück!

Ja, und während ich das hier schreibe, überlege ich, ob man über so etwas herzhaft lachen darf, so wie wir beide heute Morgen. Ob man überhaupt über den mutmaßlich größten Menschheitsverbrecher Witze reißen darf. Da ich kein Moralist bin, überlasse ich die Beantwortung lieber anderen. Eher bin ich Fatalist, das ist so eine Art Erbgut mütterlicherseits. Da wurde schierer Horror in lustige Lieder vertont und fröhlich 20 Jahre später noch in der Küche gesummt. Und so denke ich, lieber schräger Humor als Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten – und/oder daran zu zerbrechen.

Er zog von Stadt zu Stadt, mit seinem weißen Pferd ….

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Montag, 211025

Bilder vom Samstag.

Kassel – bei richtig gutem Wetter. Eine Stadt, die im letzten Krieg stark zerstört wurde, man sieht im Innenstadtbereich nur wenige alte Häuser. Dennoch – allein die Wilhelmshöhe ist eine Reise wert, wie die Bilder weiter unten zeigen. Etwas morbid und gruselig wie so vieles Wilhelminische, aber schon einzigartig. Leider fließen die Wasserspiele nur im Sommerhalbjahr an bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten´, es hat sogar ein Viadukt, alles nur der Romantik wegen, ohne Funktion. Mein praktischer Sinn ließ mich zuerst an die Reste einer Wasserversorgung denken, Info-Tafeln belehrten mich eines besseren. Man kann natürlich dem ganzen Stein-gewordenen Trugbildern einen Sinn verpassen, wenn man die Romantik als sinnbehaftet sieht. Kommt irgendwie hin, mit ein paar Klimmzügen im Kopf. Jedenfalls sehenswert, das Ganze, wenn auch eine ewige Baustelle. Je näher man beim Anstieg dem „Herkules“ kommt, desto hässlicher wird das ganze Gebilde, das, so scheint es, nur noch von Balken, Gerüsten und Stahlstützen zusammengehalten wird. Macht halt viel Arbeit, so ein Weltkulturerbe.

Auf dem Weg zur Stadtmitte.

Was treibt mich nach Kassel, was treibt mich überhaupt aus dem Haus? Nette Menschen hier aus dem Blogland, die wir uns dort trafen und bei guten Gesprächen die Höhe erklommen. Treff war ein Cafe mit leckerem Frühstück, echt empfehlenswert, aber mit Reservierung, weil gut besucht.

Mit der Straßenbahn ging es dann zum Fuß der Wilhelmshöhe, ab dort durch einen schönen, weitläufigen Park bergwärts.

Das „Viadukt“…

Ein Suchbild

Der Blick von oben ist phantastisch.

Bilder vom Wegesrand.

Zum Ende kratzt sich der Herkules gedankenverloren den Arsch, so scheint es. Mangels Teleobjektiv lasse ich das mal so stehen, wer möchte, kann das gerne nachlesen (irgendwas mit Äpfel).

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Sonntag, 211003

An diesem Tag vor nunmehr genau 31 Jahren lernte ich die Mutter meines Sohnes kennen, genauer gesagt, irgendwann nach Mitternacht, auf einer der zahllosen Wiedervereinigungsfeiern, unsere war in einem komplett abgerockten Kühlungsborner FDJ-Hotel, dass heute vermutlich eine Luxusvilla ist. Wie die Geschichte ausging, ist dem geneigten Leser ja bekannt, aber immerhin – mein Sohn hat zwei tolle Eltern, auch wenn die nicht miteinander können, selbst heute noch nicht, aus Gründen, Unreife und Suchtgeschichte sei Dank. Die schlauen Reden zum heutigen Tag überlasse ich anderen, die das besser können und lieber tun. Für mich ist dieser Tag der Schlussstrich unter der Rechnung, die uns das „dritte Reich“ geschichtlich servierte. Seitdem sind wir gefordert, miteinander auszukommen, auch wenn es schwer fällt.

Sonst so? Es regnet. Herbstblues? Nein, eher nicht, eigentlich eher innere Harmonie, passen doch Wetter und Jahreszeit zu meiner ganzjährigen Grundstimmung, endlich mal. Draußen war ich gestern, wohlweislich, mit Blick auf die Wetterkarte. Vielleicht gehe ich auch mit Regen nochmal, habe mir so n Poncho besorgt, ich gelber Sack. Hoffentlich wirft mir niemand einen leeren Joghurtbecher ins Dekollete.

Durch den Nebel der Zeit…

Through the mists of time….

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Freitag, 210917

Ein Musterbeispiel meines Verhaltens als Internet-Nutzer.

Da lese ich Die Kartenlegerin, nebenan bei Gisela. Das Bild dominiert, na klar, ich bin weder selig noch heilig gesprochen. Es folgt das überfliegen des Textes, das kenne ich. Woher nehmen, wenn es fehlt, das Vertrauen in den großen Plan? Da bieten sich solche selbst ernannten Weissager an, die im günstigsten Fall über eine ausgeprägte Intuition und Menschenkenntnis verfügen. Oder sogar ausnehmend hübsch sind, wie hier in diesem Fall. Wobei ich beim Maler, Georg Hom, ankomme, der mir bis dato unbekannt ist, was aber nicht viel heißt, Kunstbabause, der ich bin. Wer so toll malt, also aus meiner beschränkten Sicht, dem lohnt es sich nachzuspüren. Viel ist von ihm nicht überliefert, außer eben seine Bilder, und- er hatte einen Sohn, der früh verstarb und das Joachimsthalsche Gymnasium zu Berlin besuchte. Mich interessiert diese alte Schule, zumal geschlossen und dem Verfall preisgegeben. Ich lese über die Historie des Ortes, bin fasziniert von dem schönen alten Gemäuer und freue mich über Pläne zur neuen (Schul-) Nutzung. Zur Schule gehört ein Garten sowie ein Leitspruch, als dessen Schöpfer ein gewisser Johann Michael Moscherosch überliefert ist (ich hatte kein Latein, aber diese alte Sprache fasziniert mich, offenbart sie doch zahllose Wortwurzeln unserer gegenwärtigen Sprache):

Dic cur hic
Sag, warum du hier bist.

So Aufforderungen am frühen Morgen, da denke ich schon ewig drüber nach, vielleicht fällt mir nach der Morgentoilette etwas mehr dazu ein. Vorerst gehe ich ein wenig jagen und sammeln, das allein kann zwar nicht der Grund meines Daseins sein, ist aber unerlässlich, um den Kühlschrank voll zu bekommen.

Zum Schluss nochmal zurück zu Giselas Eintrag von der Wahrsagerin und nein, nicht wegen dem Bild – jedenfalls nicht nur 😉 – meine ich doch die Weisheit in den Schlusszeilen:

Vergesst nicht euer tiefes Wissen,
das selber ihr in euch verspürt!
Wegweiser werdet ihr nicht missen,
wenn euer Weg zu MIR euch führt.

Darum geht es, nicht nur für die letzte Stunde. Der Weg zu ihm kann schon zuvor beschritten werden, jeden Tag neu. Danke für`s erinnern, Gisela!