Von Gewohnheiten und vom Juckreiz

Diese Zeilen sind Teil von Christianes Schreibeinladung. Die Regeln sind einfach, maximal 300 Worte, drei davon sind vorgegeben:

Abendbrot
heimatlos
auszeichnen

Geregelte Mahlzeiten sind wichtig, denkt sie, während ihr beim Abendbrot Brotkrümel ins Dekolletee fallen und dort ungeregelten Juckreiz provozieren. Genau wie all die anderen Rituale, ohne die sie auseinanderzubrechen droht, so fühlt es sich jedenfalls für sie an. Ihre fragilen Einzelteile scheinen ein Stützkorsett aus Gewohnheiten zu brauchen, um sich nicht in alle Himmelsrichtungen davonzumachen. Was bliebe dann schon noch von ihr?

Das hätte so weitergehen können, wäre da nicht diese Angst gewesen, auf ihren Grabstein könnte einst stehen, „Sie hatte ein geregeltes Leben“. Geregelt und so was von eintönig. Langeweile war ihr zwar immer fremd, aber diese zunehmenden Grautöne ihres Daseins drücken sie nieder und provozieren Fragen. Was genau zeichnet sie über dem täglichen Regelwerk hinaus eigentlich aus, was gibt es dahinter noch an Neuen zu entdecken? Was bleibt, wenn das Stützkorsett fort ist?

Auch Grübeleien haben manchmal ihren Sinn, wenn sie ihrem natürlichen Ende entgegengehen und zu irgendeiner Entscheidung führen. Und so beschließt sie, ihrer inneren Heimatlosigkeit äußeren Ausdruck zu verleihen. Wenigstens zeitweise, denkt sie, als sie sich liebevoll von ihrem Mann verabschiedet, der anders als sie noch arbeiten muss und dies nicht nur muss, sondern auch bis zum Ende seiner Herztropfen beibehalten möchte. Er liebt sie, aber eben auch seine Arbeit, etwas, was ihr stets fremd war. Sie bewundert ihn für seinen Idealismus, der möglicherweise sein Korsett sein könnte, das kann sie nur ahnen, ist aber seins und nicht ihres.

Nach 6 Wochen ist sie wieder da, die Haut gebräunt, die Seele gefüllt mit Eindrücken aller Art von diesem vollständig planlosen Trip. Als erstes renoviert sie ihr Zimmer, schafft Raum für sich. Schafft Weite, analog zu den letzten sechs Wochen. Die Unruhe, das Streben nach Freiheit, Licht und wenigstens innerer Unabhängigkeit sind offensichtlich ebenso Teile von ihr wie der Wunsch nach Sicherheit. Wichtige Erkenntnisse dieser losen Tage.

Für C.J. und alle anderen, die sich angesprochen fühlen könnten, mich selbst eingeschlossen.

10 Gedanken zu “Von Gewohnheiten und vom Juckreiz

  1. Was für eine grossartige Idee, diesen Krümel von Abendbrot für den Juckreiz sorgen zu lassen, der dann so schön symbolisch das Gewohnheits-Korsett abzuwerfen verlockt. Meine zweite Lieblingsformulierung ist „bis zum Ende seiner Herztropfen“. Die Beobachtung finde ich auch sehr gut beschrieben, dass es Männern häufiger schwer fällt, ihrem mit dem Berufsleben verknüpftes Identitätsgefühl einen anderen Halt zu geben, als es Frauen gelingt, sich mehrfach im Leben in neue Aspekte ihrer Persönlichkeit hineinzufinden.

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  2. „Was bleibt, wenn das Stützkorsett fort ist?“ Das ist wirklich eine spannende Frage, bei der ich mich schon öfter ertappt habe – durchaus auch bei mir. Spannend auch, wie viele Antworten es gibt.
    Danke für die Etüde!
    Abendgrüße von unterwegs 😏☕🍪

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Senf dazu?