Gestern, 240615

Familienkampftag mit Hindernissen

Mutter wird 89, aus gesundheitlichen Gründen beschränken wir uns auf ein gemeinsames ausgiebiges Frühstück, das geht noch. Leben zieht sich langsam, aber unerbittlich zurück. Das Gute daran ist, sie ist klar im Kopf und hat Hilfe.

Am Abend dann soll folgen die feierliche Masterverleihung des großen Kindes in der Stadthalle zu Wuppertal. Wer nicht dabei sein kann, ist das große Kind ihmselbt, das mit Grippe zuhause bleiben muss. Spätfolge eines ausgiebigen Freiluftkonzertes. Dann ist das jetzt so.

Des Kindes Liebste und wir halten Rat, die Karten waren sündhaft teuer. Eine zweigeteilte Veranstaltung, spätnachmittagliche Zeugnissvergabe, die wir uns schenken,wenn schon unser Hauptdarsteller derangiert abwesend ist. Das einmal bezahlte Buffet hingegen suchen wir auf, allein schon der Lokalität wegen.

Eben diese Umgebung verunsichert mich leicht. Junge Träger schicker Klamotten mit stolzen Eltern, soweit das Auge reicht. Ich vertreibe mir die Zeit mit Beobachtung und schrägen Bemerkungen. Die Stühle haben Augen in der Rückenlehne, jeder genau eines in der Mitte. Zyklopenstühle sozusagen. Ein Minidisplay zur Platzanzeige, höre ich, jetzt gerade nicht in Betrieb. Elektrische Stühle, aha.

Wasserflaschen stehen umher, ich schenke uns ein. Woran erkennt man eigentlich den Proleten, denkt es in mir. Richtig, der macht die Gläser stets randvoll. Ich beschränke mich auf die Hälfte und denke weiter. Man erkennt den Proleten ja auch daran, dass er sich Gedanken macht, wie voll er die Gläser schenken darf. Na dann, ich schenke nach.

Das Buffet ist ausgezeichnet, allmählich wird die Musik lauter und eine Kapelle geht geräuschvoll an die Arbeit. Mir gehen die vielen gemeinsamen Jahre mit dem großen Kind durch den Kopf. Realschüler, Berufskolleg, Abi als Jahrgangsbester, duales Studium, erste Berufserfahrung, der Master jetzt. Irgendwann in grauer Steinzeit habe ich mit ihm Mathe geübt, da war er 10 oder 11. Gleichheitszeichen untereinander, Operationsstriche nach jeder Zeile, Struktur in der Arbeit und immer eine Aufgabe mehr als gefordert. Mindestens. Immer auch andere teilhaben lassen, dabei lernst du selbst mit. Spätestens ab der sechsten Klasse wußte ich, dem brauche ich diesbezüglich nichts mehr erklären.

In anderen Lebensfragen und ganz grundsätzlich bin ich zeitlebens bei ihm. Gibt so viel, das nirgendwo offiziell gelehrt wird und immer wieder Neuland. Dazu betritt er Lebensbereiche und Gesellschaftsschichten, die mir fremd blieben. 

Ich wünsche ihm, den Beiden von Herzen Erfüllung.

21 Gedanken zu “Gestern, 240615

  1. Eindrucksvolles Ambiente, und ich mag das Selbstportrait, genau so und genau dort. 🙂
    Da gibt es ja einiges für Dich und deinen Sohn, stolz zu sein, auch wenn es schade ist, dass ihr nicht zusammen diesen Anlass besuchen konntet.

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      1. Ob Väter anders abnabeln als Mütter, weiß ich auch nicht. Hat sicher aber nichts mit dem Geschlecht, sondern eher mit der Tiefe der Bindung und dem ‚Loslassen‘ können zu tun. 🙂

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  2. Gratulation.
    Es ist doch mehr als schön, dass er sich trotz eurer Vergangenheit so gut entwickeln konnte und seinen Weg gefunden hat.
    Das Gebäude sieht ja mehr als sehenswert aus.
    (Somit warst du gestern nicht auf dem Nachbarschaftsfest welches sie im TV gezeigt haben).

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    1. Danke, Nati. Nee, das Ölbergfest war eher erschwerend, Auto blieb stehen, alles Gereise mit Öffies. Dauert halt länger, geht aber.

      „Nachbarschaftsfest“ – das war es zu Beginn. Mittlerweile kommt das ganze Tal und drumherum zum kollektiven Abschädeln. Wir verschwinden dann gerne …

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  3. herzlichen Glückwunsch zum Master des Sohnes und gute Genesungswünsche. Sind solche Master- Festveranstaltungen jetzt üblich? Um mein Doktordiplom in Empfang zu nehmen, wartete ich zusammen mit den anderen im Vorraum des Dekanats, wir wurden einzeln hineingerufen (nach Note, die schlechtesten zuerst nach dem Motto „die letzten werdende Ersten sein“, und so erfuhren die anderen Kandidaten, wer besser abgeschnitten hatte), drinnen drückten der Dekan und noch wer einem die Hand, man erhielt ein einfaches Dokument – und das war es dann. Weder stolze Eltern noch Büfett noch gar Musik.

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  4. Geliebter Reiner,

    ich freue mich auch mit Dir, dem Master-Sohn und der Liebsten, und schätze mich glücklich, dass Du uns an Deiner Ehrlichkeit, an Deiner inneren Größe und Liebenswürdigkeit einfach so teilhaben lässt. Dass die Mutter versorgt ist und Hilfe erhält, hat mich ebenfalls erfreut. 🙂 Dankeschön für diese mehrfachen Anlässe, sich miteinander zu freuen.

    Heilsame und leuchtende GrüßeLuxus

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  5. Ich bin unschlüssig, ob ich elektrische oder Zyklopenstühle schlimmer finden soll. Der Zyklop droht den Esser zu verspeisen, auf dem elektrischen Stuhl wird der Tatverdächtige gewestinghouset, so dass er nicht lange schuldig oder unschuldig sitzen muß. Schlimmer die elektronsiche, die allgegenwärtige Überwachung, wer nicht ins digitalgesellschaftliche Muster paßt fällt raus. Aus Stühlen, unter Tische. Puh. (Die alte Oma ohne Handy kann mit ihrem Impfausweis wedeln, wie sie will, sie braucht nicht mehr aus dem Haus! – Ich ja zum Glück noch nicht, aber ich sehe derlei in Riesenschritten auf mich zukommen. Bin ich doch einigermaßen inkompatibel, will’s auch oft gar nicht sein!)

    Und dabei so ein schöner Anlaß. Man freut sich doch immer sehr, wenn die eigenen Kinder einen Schritt ins Leben, in das geforderte und übliche noch dazu, getan haben! Zum Glück war, soweit ich mich erinnere, bei den entsprechenden Veranstaltungen keiner krankheitshalber abwesend. Oh, Eindruck haben sie gemacht. Die jungen Damen in langen Kleidern, die hochgeschossenen jungen Herrn im Anzug – was kostet die Welt? Genau so viel, wie die Alten rausrücken. Wir wollen morgen mehr verdienen! Derlei Anmerkungen wurden mir stets strikt untersagt: „Du verdirbst einem die ganze Freude!“ Aber wo’s doch wahr ist!

    Das berühmte Glas, das, das immer halbvoll oder eben halbleer ist, wird nie abgeräumt. Bei den anderen scheint es mir einigermaßen nebensächlich, wie viel rein paßt. Randvoll ist unpraktisch, erschwert das unbescherte Trinken. Nur Schlückchen zeugt entweder von nicht anlaßgemäßer Askese oder falscher Bescheidung. Nein, in das Glas gehört, was auch getrunken wird. Also bis zu einer Füllhöhe, die noch gut zu handhaben ist! – Das hat mich freilich noch selten belastet. Doch bei manchen Anlässsen ist es eine offenbar dem Gelingen zuträgliche Frage, was wofür ist. Gläser, Schälchen, Teller, Bestecke… Ich habe mir angewöhnt, das irgendwann laut und deutlich zu fragen. So viel Souveränität muß sein. – „Psst. Du verdirbst einem ja den Abend, wenn du hier so laut herumkrakeelst, dass du nicht weißt, was das ist!“ „Ich weiß es ja nicht. Du vielleicht?“

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Senf dazu?