Donnerstag, 240627

Eigentlich ist keine Zeit zum schreiben. Wann denn dann, am Abend ist der Geist müde, vernebelt und bis an den Rand gefüllt mit dem Scheiß des Tages . Also jetzt.

Eine Motte verirrt sich in meinen Bürocontainer. Nach diversen Geflatter lässt sie sich auf eine meiner Taschen nieder, wo sie auch bleibt, als ich mit ihr raus gehe, um sie in die Botanik zu pusten. Gnadenfrist, denke ich, mach was draus. Der nächste Vogel ist dir sicher. Nebenbei bin ich beieindruckt von der Schönheit dieses Geschöpfes.

Sie hatten das Fenster geöffent, damals in dem dunklen Heimzimmer. Seine Seele sollte frei sein und gehen können, nette Symbolik für uns, die wir weiter leben müssen und an Materie gebunden sind. Ob seine Seele den Weg durch das geöffnte Fenster genommen hat, weiß ich nicht. Erinnern kann ich mich an die beiden sehr schwarzen Falter, die neben dem Fenster auf der Wand saßen. Geleitkommando mit Trauerflor, so schien es.

Das Ende der Reise hat so viele Gesichter wie es Menschen gibt. Erneut darf ich dabei sein und schauen, wie sich Mutters Leben unglaublich langsam, aber unerbittlich seinem Ende zuneigt. Schwer zu beschreiben, was das mit mir macht. Da ist die Wut auf meine nicht enden wollende Erwerbstätigkeit, die mich daran hindert, mich etwas mehr einzubringen. Da ist die glitschige Frage – was genau könnte ich tun, bis zu welchen Grenzen. Vorerst tue ich, was ich kann, auch, wenn es mir arg wenig vorkommt.

Im Grunde ist es nicht wirklich fair. Wer auf Erden ankommt, dem wird bei gewissen Startproblemen geholfen, da gibt es Menschen, die wissen wie. Manchmal geht das rustikal zu, wie bei meiner Geburt. Füße vorneweg, Nabelschnur um den Hals, blauschwarz und atemlos – ich wollte nicht hier her. Verdroschen haben sie mich zur Begrüßung – herzlich willkommen, und jetzt hol endlich Luft, du hast keine Wahl. Ok, es gab in der Folge lebendiges Geschrei, das machte sie glücklich, später schrie ich dann und weil ich nicht damit aufhören wollte, gab man mir einen Grund zu schreien. Oder versprach mir selbigen, was ähnlich verstummende Wirkung hatte.

Ich verliere mich in Worten und Nabelschnüren – wo ich hin wollte, ist, wer gehen darf/muss (das kann man so oder so sehen), dem wird dabei nicht unbedingt geholfen, zumindest nicht aktiv. Das gilt als verpönt, die Unterrichtsstunde vorzeitig zu beenden und Hilfe ist hier sogar strafbar. Mit Blick auf unsere Geschichte ist diese unsere an und für sich unentspannte Haltung mehr als verständlich.

Was bleibt, ist da sein, zuschauen, zuhören, an den richtigen Stellen anpacken, wo es Not tut. Mit dem Gedanken Freundschaft schließen, das auch einst in welcher Form auch immer durchstehen zu müssen.

Jedenfalls nicht allein, einer guckt immer.

18 Gedanken zu “Donnerstag, 240627

  1. Mein Vater starb vor 35 Jahren. Da lebte ich noch zu Hause und sah ihn jeden Tag. Meine Mutter starb 2022, ganz plötzlich. Sie war allein und niemand hatte gemerkt, dass sie nachts umgefallen war. Noch heute bin ich bekümmert und denke an Zeit, die ich nicht mit ihr verbracht habe, in der sie allein war.

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  2. Es scheint nie genug zu sein, was wir tun, aber wir tun, was wir können, und oft sogar viel mehr. Aber das sagen uns dann immer andere. Selber glaubt man immer , irgenetwas nicht ausreichend erfüllt zu haben… viel Kraft und Geduld dir!

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  3. Ein sehr berührender Beitrag. Ich wünsche Dir viel Kraft aus der Ferne. Mich stärkt es manchmal die scheinbar unwichtigen Dinge (wie die Schönheit deines Falters oder bei mir z.B. die bewaldeten Berge über der bunten Blumenwiese vor der Haustür) zu betrachten und mich daran zu erinnern, dass die Welt auch unglaublich schöne Seiten hat, die der Mensch gar nie zuwege bringen würde – neben all dem Schrecklichen, Hässlichen (das oft von Menschen verursacht wird).

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  4. wünsche dir viel Kraft. ich kann auch nicht jederzeit dasein und alles so gut machen, wie es sich einer vielleicht idealerweise erhofft… jede/r einen kleinen Teil und das ist dann in der Summe auch viel und hilft etwas, es leichter zu machen

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  5. 💜👃🕯️👃💜

    Wenn ich dich lese, möchte ich dich immer öfter umarmen. Manchmal, um gemeinsam mit dir zu lachen und heute mehr, um still mit dir in uns allen zu sein, damit sich der Raum im Innersten leert, sodass Gott Seinen Trost und Seine Gnade hineinlegen kann.

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  6. Lieber Reiner, die schöne Motte wäre eine Delikatesse für meine Katzen gewesen. 🤤

    Ich danke dem, der mich vom Bild des Sterbens meiner Eltern bewahrt hat. Beide Male habe ich erst hinterher erfahren, dass sie gestorben sind. Das ist für mich eine Gnade. Der Vorgang des Siechens und Sterbens naher Angehöriger ist ein bitterer Lehrmeister. Der Tod selbst ist für mich eine weltliche Angelegenheit, die mit dem Übergang ins Jenseits abschließt. Man muss erkennen, dass man zur Ewigkeit gehört. Wir sind nur Pilger, die einen vorübergehenden Weg durch das Leben beschreiten. Von der Silberschnur, der Nabelschnur, die Seele, Geist mit dem Körper verbindet, wird Dich erst der Tod befreien.

    Alles, was zusammengehört, wird wieder zueinander finden. Da bin ich sicher! Alles Liebe Dir und ein schönes Wochenende. Herzliche Grüße, Gisela

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Senf dazu?