Montag, 210201

1234, das war immer gut zu merken. Die Geburtsdaten meines Vaters, der heute 87 wird. Ein unvorstellbares Alter – für mich. Er, meine Mutter und alle aus dieser Generation haben als Kinder in Bombenkellern gesessen und sich beschissen vor Angst. Sie hatten mehr als dysfunktionale Familien, sie lebten größtenteils im puren Beziehungschaos. Sie haben gehungert und in zugigen Löchern zu sechst in winzigen Zimmern gehaust. Umgedrehte Tische dienten den Kindern als Bett, für die Nacht. Sie lebten tagtäglich mit der Angst. Zunächst die Angst, aufzufallen und irgendwann zu „verschwinden“, wie die Nachbarn, letztens. Dann die Angst vor dem Feuer, vor den Bomben, vor den Tieffliegern in den Straßen, die so tief flogen, dass die Gesichter ihrer Piloten zu erkennen waren, die auf alles schossen, was sich bewegte. Die Angst vor dem blanken Tod. Später dann die Angst, verhungern zu müssen.

Sie entwickelten ihre Strategien, mit alledem klar zu kommen, nachdem die Schränke wieder gefüllt waren. Verdrängung und Konsum, anders ging es nicht. Sie haben überlebt und ihre Art von Erfüllung gefunden, ganz gleich, was ich davon halte. Ein Urteil steht mir nicht zu. Wie anders dagegen das Gejammer heute. Kneift einfach mal eure Ärsche zusammen, möchte ich manchmal rufen, und wartet ab, bis es besser wird. Tut oder besser lasst alles, was dieses besser-werden sinnlos in die Länge zieht.

Selbst hatte ich meine persönlichen Krisen, Versoffen und Nüchtern. Alles hat sich gelöst oder zumindest auf ein lebbares Maß reduziert. Alpha und Omega – Geduld ist gefordert. Es findet sich.

Bilder von der Runde gestern, aus`m Kiez…

Wuppertal, Nordstadt Elberfeld

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21 Gedanken zu “Montag, 210201

  1. Lieber Reiner, Dein Text beschreibt kurz und bündig das Schicksal unserer Eltern und Großeltern, welches sich ja auch auf unsere Generation und die unserer Kinder noch auswirkt. Ein Urteil steht mir nicht zu, das stimmt, auch wenn ich es in meiner Jugend anders dachte. Aber damals wusste ich ja gar nicht, wie mir selbst geschah. Heute habe ich, so wie Du, meinen Frieden geschlossen. Und wie schön, dass Deine Eltern noch bei Dir sind. Ich wünsche Euch alles Gute und vielleicht habt Ihr Gelegenheit, den Geburtstag💐 gemeinsam zu feiern.
    Bist Du damit einverstanden, dass ich Deinen Text in den Regenbogen hole (reblogge)? Liebe Grüße! Regine

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  2. Die Menschen, meist aus der jüngeren Generation, bei denen stets alles glatt lief, denen ständig Staubzucker in den Allerwertesten geblasen und alle Problemchen abgenommen wurden, haben doch nie die Erfahrung machen müssen bzw. dürfen, dass man nach einem Totaleinbruch von vorne beginnen kann. Dass sich ein Neubeginn mit Anstrengung lohnen kann, ja gar befriedigend sein kann. Für sie ist immer gleich alles vorbei. Ich denke, man kann ihnen dafür keinen Vorwurf machen.
    Meine Kinder haben zwei solcher Abstürze erlebt und gesehen, dass es immer wieder weitergeht, auch gut weitergeht und gute Zeiten sowie schlechte vorübergehen. Sie haben allesamt keine Probleme mit dem Zustand. Er nervt sie auch, sie äußern Kritik, aber sie ziehen das einfach durch.
    Neulich antwortete mein ältester Sohn bei fb auf die Frage nach den Armutserlebnissen, die ihn als Kind/Jugendlichen am meisten gedemütigt haben. Er nannte nur zwei und es trieb mir die Tränen in die Augen. Doch im Nachsatz schrieb er, das sei eine harte aber auch lehrreiche Schule gewesen.

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  3. Ein Strich auf den Landkarte entscheidet darüber ob wir uns und unsere Vorfahren als „Täter“ oder „Opfer“ sehen…
    Als ich den Vater meiner Kinder kennenlernte, fanden meine Eltern es wichtig mir zu sagen, dass sein Vater „pro Deutsch“ war (so wurden die bezeichnet die nach dem „Heim ins Reich“, als Freiwillige in die Deutsche Armee eingetreten waren) und vor einigen Jahren tauchte ein Bild seines Grossvaters mütterlicher seits in SS Uniform auf. Geschichte ist auch immer Gegenwart.
    Manchmal wenn ich auf FB meine Nichten und Neffen lese, dann frage ich mich ob es irgendwie erblich ist…
    Wir sind wohl alle Täter, egal wo wir gerade sitzen. Wir sind überall dort Täter wo wir nichts verhindern…
    Wo hat es mich denn da gerade gezogen?
    Ich freue mich dich zu lesen, dich deinen Eltern gegenüber so anders als noch vor Jahren zu erfahren. Guten Weg ❤

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  4. Ich mag deine Stadtbilder. Ist jetzt 10 Jahre her, dass ich mich dort einquartiert hatte und meine Scheidung vorzubereiten. Ich mag diese Architektur, die „Hängelampen“, die Steigungen und verborgenen Treppen.

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  5. Erstmal: Herzliche Glückwünsche an deinen Vater!
    Was du schreibst, ging mir auch schon mehrfach durch den Kopf. Es ist wohl ein Privileg der Jugend, dass man alte Geschichten über die schlechte Zeit nicht hören mag. Vielmehr versteht man Vieles erst mit zunehmendem Alter.
    Ich denke, die heutige Zeit wird irgendwann die gute alte Zeit sein. Außerdem ist nicht alles schlecht, mit dem wir uns heute herumärgern. Aber das begreifen wir erst im Nachhhinein. ( Manche begreifen es auch nie🤷🏻‍♀️)
    Grüßle flussaufwärts

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  6. Es war/ ist die Aufgabe unserer Generation, das seelisch-geistige Erbe des Zweiten Weltkriegs abzuarbeiten …
    Ich hatte immer schon absolutes Verständnis dafür, warum meine Vorfahren so geworden sind wie sie waren … aus ihrer Geschichte heraus … und doch … entschuldigt das nicht alles , denn … auch mit der gleichen Geschichte sind sie nicht alle gleich geworden

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Senf dazu?